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Meerjungfrauen sind unsterblich

Der Vergnügungspark Weeki Wachee existiert seit 1947 - damit ist er der älteste in Florida. Seine Attraktion, die Meerjungfrauen, waren ursprünglich eine Werbeidee: Sie standen draußen am Highway und winkten urlaubende Familien hinein. Doch schon bald wurden sie zum eigentlichen Anziehungspunkt.

Von Tom Noga | 26.02.2012
    Weeki Wachee liegt an Highway 19, einer achtspurigen Straße, die sich entlang Floridas Golfküste erstreckt. Der Ort hat man leicht passiert, ohne es zu merken – kein Wunder bei exakt zwölf Einwohnern. Auch der gleichnamige Vergnügungspark wird leicht übersehen. War das nicht ein Piratenschiff, das zwischen den Mangroven herverlugt?

    Drinnen wirkt alles beschaulich. Eine Wasserlandschaft, ein Spielplatz, ein paar Imbissbuden. Durch einen Tunnel geht es hinab in ein unterirdisches Amphitheater. Im Eingang eine dunkelhaarige junge Frau in einem meerblauen Bikini.

    "''I'm mermaid Lauren. I swim with the current mermaids here at Weeki Wachee.”"

    Lauren, die Meerjungfrau führt durchs Amphitheater. Es besteht aus acht Sitzreihen vor einer verhangenen Glasfront. Das Holz auf den Bänken ist abgeblättert, Lehnen gibt es nicht. Ausreichend Platz für die rund 50 Zuschauer, die sich zur ersten von drei Vorstellungen an diesem Samstagmorgen eingefunden haben.

    Das Licht erlischt, zwei Monitore fahren aus der Decke. Zu Musik aus den 1960er-Jahren wird die Geschichte von Weeki Wachee erzählt. Lauren, die Meerjungfrau, gleitet durch eine Tür neben der Fensterfront.
    Der Name Weeki Wachee, erfahren die Zuschauer, ist indianisch. In der Sprache der Creek bedeutet "wekiwa chee" kleine Quelle. Tatsächlich entspringt direkt unter dem Amphitheater, in 40 Meter Tiefe, ein Fluss. Der gleichnamige Vergnügungspark existiert seit 1947 – damit ist er der älteste in Florida. Die Meerjungfrauen waren ursprünglich eine Werbeidee: Sie standen draußen am Highway und winkten urlaubende Familien hinein. Doch schon bald wurden sie zur eigentlichen Attraktion von Weeki Wachee.

    Der Vorhang öffnet sich und gibt den Blick frei auf eine Unterwasserlandschaft, ein Riff, darauf ein Märchenschloss und eine Schatztruhe. Direkt vor der Glasfront fünf Meerjungfrauen. Sie schwingen in den Hüften, breiten die Arme aus, werfen Kusshände ins Publikum.

    Aufgeführt wird "Die kleine Meerjungfrau" als Unterwasser-Ballett, basierend auf einem Märchen von Hans-Christian Andersens. Mit Lauren in der Hauptrolle, als Arielle. Ein Zug aus einem der Sauerstoffschläuche, die in der Unterwasserlandschaft liegen, und sie sinkt hinab. Lauren bläst Luft aus ihren Lungen – und schießt Richtung Wasseroberfläche.

    Arielle rettet einen Prinzen vor dem Ertrinken und verliebt sich in ihn. Ihr Vater, Meereskönig Triton, ist strikt gegen die Liaison mit dem "barbarischen Fischfresser", wie er abschätzig formuliert. Die Meereshexe Ursula verspricht Hilfe:

    Ursula schenkt der kleinen Meerjungfrau Arme und Beine, so kann diese an Land und ihren Prinzen bezirzen – allerdings zum Preis von Arielles Seele, sollte der Prinz ihre Liebe verschmähen. Logisch, dass die Hexe Böses im Schilde, klar, dass alles gut ausgeht.

    Zum Happy End tanzen die anderen Meerjungfrauen den Hochzeitsreigen für Arielle und ihren Prinzen. Eine letzte Kusshand ins Publikum, dann verlassen Braut und Bräutigam die Unterwasserwelt – sie werden künftig an Land leben.

    Eine Viertelstunde später. Die fünf Meerjungfrauen haben geduscht. "Sehr warm geduscht" wie Mermaid Lauren lächelnd betont. Die Wassertemperatur in der Quelle beträgt nur 22 Grad – am Ende der halbstündigen Show steigen die Darstellerinnern fröstelnd aus dem Fluss. Nun sitzen sie giggelnd in ihrer Graderobe.

    "Durch die Arbeit hier haben sich die meisten von uns etwas Kindliches bewahrt. Unsere Chefin zieht uns oft damit auf, dass wir den ganzen Tag nur spielen wollen und so. Aber wenn es darauf ankommt, können wir auch arbeiten."

    Lauren schlendert in die Garderobe nebenan. Dort bereiten sich die mermaids of yesteryear auf ihren Auftritt vor. Die Meerjungfrauen aus vergangenen Zeiten, das sind fünf Damen jenseits der 50: Barbara, Becky, Lynn, Suzie. Und Lydia Dodson, eine hoch aufgeschossene Frau mit schulterlangen brünetten Haaren. Meine Mutter, stellt Mermaid Lauren vor.

    Ihre Zeit als Meerjungfrau in den 60er und 70ern? Lydia Dodson lächelt versonnen. Das waren goldene Jahre. Florida war das Urlaubsparadies für jedermann: sonnig, warm. Themenparks luden die Reisenden zum Verweilen ein – 150 sollen es zeitweise allein entlang der 19 gewesen sein. Weekie Wachee gehörte damals dem Unterhaltungskonzern ABC, mermaid war ein Vollzeitjob, einer von dem man prima leben konnte.

    Die Probleme begannen mit der Eröffnung von Disneyworld Mitte der 70er-Jahre. Mehr und mehr verblassten die Meerjungfrauen hinter den immer aufwendigeren Produktionen, mit denen Disney aufwartete. Fast alle kleinen Themenparks gaben mit der Zeit auf. Weeki Wachee hat überlebt, lange Zeit mehr schlecht als recht, bis der Staat Florida den Park im Jahr 2005 übernahm und damit eine drohende Pleite verhinderte. Seitdem ist Weeki Wachee ein Nationalpark.

    "Es sind andere Zeiten als in der Jugend meiner Mutter, vor allem wirtschaftlich. Heute brauchen die meisten von uns Mädchen einen zweiten Job, um über die Runden zu kommen. Weeki Wachee ist unsere Lebensstil, wir verzichten auf besser bezahlte Jobs, wenn sie mit unsere Arbeit hier kollidieren. Ich selbst habe zwei Jobs und studiere Vollzeit. Ich könnte es einfacher haben, aber ich habe den schwereren Weg gewählt, um hier arbeiten zu können. Und ich würde um nichts in der Welt tauschen, keine von uns würde das."

    Andererseits hat der Status als Nationalpark auch Vorteile, sagt Lydia. Sie selbst musste aufhören, als sie 25 geworden war. Eine Altersobergrenze wie damals von ABC vorgeschrieben, gälte bei einem Staatsunternehmen als Diskriminierung. 30 Jahre hat Lydia anschließend bei der amerikanischen Post gearbeitet. Und sich, kaum im Ruhestand, den mermaids of yesteryear angeschlossen. Jeden Samstag und Sonntag steht sie für je eine Show auf der Unterwasserbühne. Der Weidereinstieg - nun ja, einfach war's nicht.

    "Meine Tochter korrigiert mich, wann immer ich etwas falsch mache. Und sie guckt zu, wenn ich schwimme. Ich bin jetzt seit einem Jahr in der Show der früheren Meerjungfrauen Anfangs hat sie gesagt sie: 'Mutti, Du brauchst mehr Selbstvertrauen.' Was für eine nette Art, mich zu kritisieren. Die Rollen haben gewechselt: Jetzt sagt sie mir, was ich tun soll."

    Mermaid Lauren grinst.

    "Na ja, sie war so lange raus und mein ganzes Leben hat sie mir gezeigt, wie's geht. Sie hat mir Autofahren beigebracht, wie ich mich kleide und schminke. Als sie wieder anfing, habe ich ihr halt ein paar Tipps gegeben. Das ist wie Fahrradfahren: Man verlernt es nie, aber manchmal braucht man ein bisschen Hilfe. Es war toll, den Spieß umzudrehen."

    "There's something about the spring", das war einmal die Erkennungsmelodie der Meerjungfrauen von Weeki Wachee, der Song. Die mermaids of yersteryear wiegen sich im Takt, Arm in Arm. Sie gleiten auseinander, vereinigen sich wieder. Ihre Show ist langsamer und weniger akrobatisch, mehr Tanz als Schauspiel. Eine Musikrevue im Stil der 50er und 670er-Jahre, zu Elvis, Doris Day und...

    ... zum Abschluss Frank Sinatra: "Nimm mich mit auf den Mond, ich möchte wissen, wie sich der Frühling auf Jupiter und Mars anfühlt". Die Meerjungfrauen bilden einen Stern. Dann schwimmen sie zur Fensterfront, hinter der die Zuschauer sitzen und verbeugen sich.

    Eine halbe Stunde später in der Garderobe. Lydia Dodson ist zufrieden. Eine prima Show, bis auf ein paar kleine choreografische Fehler. Aber darum geht es ihr nicht.

    "Ich fühle mich wie 19, 20, 21. Das Wasser verjüngt einen, man fühlt sich so jung. Und ich liebe es, meine Tochter hier schwimmen zu sehen."

    Mermaid Lauren bereitet sich in der Garderobe nebenan auf ihren zweiten Auftritt heute vor.

    "Ich lebe die Freiheit. Und ich liebe das Gefühl der Schwerelosigkeit. Beim Tauchen brauchst Du so viel Ausrüstung, mit der schweren Sauerstoffflasche auf dem Rücken kannst Du nicht frei bewegen. Und beim Schwimmen musst du immer wieder hoch zum Atmen. Hier brauchst Du nichts als die Sauerstoffschläuche. Das machte es so besonders, auf der ganzen Welt gibt es nichts Vergleichbares."

    Und das, hebt ihre Mutter hervor, ist altersunabhängig.

    "Unsere Älteste war 80, Mermaid Dottie. Im letzten September ist sie 80 geworden und hat aufgehört. Jetzt ist Mermaid Vicky unsere Älteste, mit 71. Meerjungfrauen sind unsterblich."