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Mehr als das fünfte Rad am Wagen

Der Pianist und Komponist Mili Alexejewitsch Balakirew wurde um 1860 in Sankt Petersburg zum geistigen Vater einer Gruppe von jungen Musikern, die als das "Mächtige Häuflein", "Die Fünf" oder der "Balakirew-Kreis" bekannt wurden. Während die Werke von Cesar Cui, Alexander Borodin, Modest Mussorgski und Nikolai Rimski-Korsakow bis heute ihren Platz im Konzertrepertoire haben, werden Kompositionen von Balakirew nur noch selten gespielt.

Von Renate Hellwig-Unruh | 29.05.2010
    "Islamej - dieses Stück wurde gelegentlich im Kaukasus geplant. Da ich mich für die dortige Vokalmusik interessierte, suchte ich die Bekanntschaft eines Tscherkessenfürsten, der häufig zu mir kam und auf seinem Instrument, das teilweise einer Geige ähnelte, Volksweisen spielte. Eine davon, die sogenannte Islamej, eine Tanzmelodie, gefiel mir außerordentlich gut und ich begann, sie für Klavier einzurichten."

    Mili Balakirew über seine 1869 geschriebene orientalische Fantasie, die eine rasche Verbreitung fand und bis heute das bekannteste Werk des russischen Komponisten geblieben ist.

    "Er war jung, hatte wunderbare lebhafte, feurige Augen, einen stattlichen Bart, sprach resolut, [...] war ständig bereit zu herrlichen Improvisationen am Klavier, merkte sich jeden ihm bekannten Takt und behielt jede ihm vorgespielte Komposition augenblicklich im Kopfe. [...] Sein Einfluss auf die Menschen seiner Umgebung war unvorstellbar groß und wirkte fast wie eine magnetische, ja spiritistische Kraft."

    So erlebte Nikolai Rimski-Korsakow seinen Lehrer Mili Balakirew. Anfang der 1860er Jahre scharte Balakirew in Sankt Petersburg eine Gruppe junger Musiker um sich, die alle nur eine rudimentäre musikalische Ausbildung erhalten hatten: César Cui, Alexander Borodin, Modest Mussorgski und Rimski-Korsakow. Diesen wissbegierigen Autodidakten, die alle kaum jünger waren als er selbst, gab er Unterricht und stand ihnen mit Rat und Tat zur Seite. Er war das geistige Oberhaupt Der Fünf, wie sie anfangs genannt wurden.

    " "Über wieviel Poesie, Gefühl, Talent und Verstand dieses kleine, aber schon mächtige Häuflein russischer Musiker verfügt", "

    schrieb 1867 der einflussreiche Kunstkritiker Wladimir Stassow und prägte damit den Namen der Gruppe, die zu einer Keimzelle der russischen Musik werden sollte: "Mogutschaja kutschka" - das Mächtige Häuflein.

    Mili Balakirew, am 2. Januar 1837 in Nischni Nowgorod geboren, erhielt seine musikalische Ausbildung im Haus des Gutsbesitzers und Mozart-Biografen Alexander Ulybychew. Nach einem zweijährigen Studium der Mathematik und Physik ging der 18-Jährige nach Petersburg, wo ihn Michail Glinka, der Patriarch der russischen Musik, unter seine Fittiche nahm. Glinka, dessen Werke er später herausgab, gab ihm den Anstoß zur Schaffung einer russischen Nationalmusik, die sich auf ihre eigenen Wurzeln, das Volksliedgut, besinnt - als Gegenkraft zur westlich geprägten Moskauer Schule um Peter Tschaikowsky. Als Pendant zu dem ein Jahr zuvor entstandenen staatlichen Konservatorium gründete Balakirew 1862 in Sankt Petersburg die Freie Musikschule, wo er selbst unterrichtete. Daneben komponierte er, trat als Pianist auf und dirigierte die Konzerte der Russischen Musikgesellschaft.

    Balakirews sinfonische Dichtung "Tamara" übte durch ihre starke erzählerische Qualität und die Verwendung von orientalischen Motiven einen großen Einfluss auf seine russischen Musikerfreunde aus. Weder die heute populäre "Scheherezade" von Nikolai Rimski-Korsakow noch Alexander Borodins "Steppenskizze aus Mittelasien "wären ohne Balakirews "Tamara" möglich gewesen.

    Seine letzten Lebensjahre verbrachte der leidenschaftliche Chopin-Spieler und Franz-Liszt-Anhänger mit dem Komponieren von Klavierstücken und der Überarbeitung früherer Werke. Als Mili Balakirew am 29. Mai 1910 in Sankt Petersburg 73-jährig starb, hatten ihn seine einstigen Weggefährten bereits längst an Einfluss und Popularität übertroffen. Doch als Volksliedsammler, als Mentor des Mächtigen Häuflein und Wegbereiter einer russisch-national geprägten Musik nimmt er bis heute eine Schlüsselstellung in der Musikgeschichte ein.