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Mehr als das übliche Begehren

Nachahmer - exporttechnisch vor allem durch sexuelle Tabulosigkeit. Auch Éric Laurrent spielt immer wieder voller Ironie mit der Lust. Doch beschreibt sein Roman "Clara" auch andere gesellschaftliche Phänomene: so die Verbürgerlichung der ehemaligen Pariser Arbeiterviertel oder die Pseudoverwissenschaftlichung der Sprache am Beispiel der Phrasen eines Produktchefs für Trockenfleisch.

Von Christoph Vormweg | 09.02.2007
    Die große Liebe, die unerwidert bleibt: Auch den 33-jährigen Pariser Ich-Erzähler treibt sie an den Rand des Wahnsinns. Als die verheiratete Orchestermusikerin Clara Stern seine Wege kreuzt, glaubt er allerdings noch - ganz stolzer Hahn - nur an das übliche Begehren. Automatisch setzt er seine erfolgserprobte Eroberungsstrategie in Gang:

    " Ich folgte einer Art Jagdinstinkt, der mich nie auch nur einen Augenblick verließ und mich antrieb, auf jede in meinem Gesichtsfeld auftauchende Beute sofort loszugehen, weniger aus irgendeiner ununterdrückbaren libidinösen Regung oder irgendeiner wilden Gier auf ihr zartes Fleisch, sondern um potenziellen Rivalen zuvorzukommen, die sie hätten vereinnahmen und am Ende wegschaffen können, ohne dass ich irgendwie zum Zuge gekommen wäre, eine unter den gegebenen Umständen nicht unwahrscheinliche Gefahr, da diese Frau eine der seltenen offenkundig schönen Kreaturen war, auf die sich alle Augen richteten, sobald sie irgendwo auftreten. "

    In einem Ratgeber zur Kunst des Verführens werden Sie einen solchen Satz nicht finden. Dafür ist er zu lang, zu komplex. Für Eric Laurrent sind Zehn-Zeilen-Sätze jedoch alles andere als ungewöhnlich. So bringt er es in seinem Roman "Clara" wiederholt auf Zwei-Seiten-Sätze. Die Flut der Einschübe verwaltet er nicht nur mit Kommata, Semikolons und Bindestrichen, sondern auch mit runden, eckigen und geschwungenen Klammern. Für das präzise Austarieren der Laurrentschen Satzwürmer gebührt dem Übersetzer Frank Wegner daher ein Sonderlob. Mit einem Wort: Marcel Proust und Claude Simon lassen grüßen:

    " Das ist eine Wendung, die mein Stil im Laufe der Jahre durchgemacht hat - ich würde fast sagen: gegen meinen Willen, denn es war mir erst nicht bewusst. Stilistische Wille steckte also nicht dahinter. Es ergab sich beim Schreiben der letzten zwei, drei Bücher spontan. Die Abschweifungen stellen sich also von selbst en. Ich lasse mich einfach vom verbalen Ausfluss mitziehen, ohne die Sätze abzubrechen. Das ist eine Methode, die Gedanken assoziativ auf mich zukommen zu lassen. Mit kurzen, aneinander gereihten Sätzen wäre mir das nicht möglich. Indem ich die Gedanken übereinander schichte, wird sozusagen ein vertikales Schreiben möglich anstatt eines horizontalen. "

    Éric Laurrent beschreibt, wie seinem Erzähler das hormonelle Ventil abhanden kommt. Statt wie gewohnt zwischen Neueroberungen und nach wie vor willigen Ex-Freundinnen zu pendeln, fixiert er seine ganze Liebesenergie auf Clara. Für sie, die schöne Gambistin, schwört er seinem Donjuanismus ab - und sei es notfalls mit dem Mittel der Präventiv-Onanie. Da er sie aber auch mit den innigsten Geständnissen und gewitztesten Taktiken nicht zu bezirzen vermag, tritt bald der Lebensmut auf der Stelle - und mit ihm die Wahrnehmung. Die Beobachtung des Nebensächlichen, des Statischen und Zufälligen rückt in den Vordergrund - sei es nun der Inhalt eines WC-Mülleimers oder ein Schlafwagenabteil.

    " Ich bin ein großer Liebhaber von Beschreibungen. Anders als die meisten Leser, die Beschreibungen überspringen, um rasch wieder zum Dialog zu gelangen, mache ich es eher umgekehrt: Ich überspringe die Dialoge, um wieder zu den Beschreibungen vorzudringen. Beschreiben ist für mich das eigentliche Wesen der Literatur. Dinge faszinieren mich. Die Welt zu beschreiben, heißt für mich, sich ihrer zu bemächtigen. Ein Zugabteil an sich zum Beispiel ist nicht besonders anziehend. Man weiß nicht, was man darüber erzählen soll. Doch kann man aus ihm ein einen literarischen Gegenstand machen, ihn transfigurieren - um einen Begriff aus der Ästhetik aufzugreifen. Man verklärt das Banale und versucht ihm trotz allem eine gewisse Schönheit abzugewinnen, aus ihm ein poetisches Element zu machen. Bei allen Unterschieden bin ich eine Art Erbe des "Nouveau roman". Der ist auch eine Literatur, die besessen war von der Beschreibung und vom Gegenstand. "

    So verwundert es nicht, dass Éric Laurrents Romane in den Pariser Éditions de Minuit erscheinen, jenem legendären Kleinverlag, wo mit Alain Robbe-Grillet, Natalie Sarraute und Michel Butor auch die namhaftesten Vertreter des so genannten Nouveau Roman entdeckt wurden. Anders als viele von ihnen verbindet Éric Laurrent seine Ausflüge ins Reich elitärer literarischer Ansprüche jedoch mit einem abwechselungsreichen, zuweilen höchst amüsanten Plot. Denn einmal aus der Spur des arroganten Frauenabräumers geworfen, wird er von Selbstzweifeln gepeinigt. Sogar Schlagerschnulzen rühren ihn plötzlich an. Und: mit der einst gerühmten Potenz ist Feierabend. So scheitert sein gut gemeinter Befruchtungsversuch einer lesbischen Freundin trotz freizügigster Dreisamkeit kläglich.

    " In allem, was ich geschrieben habe und schreibe, gibt es immer eine zweite Ebene. Man kann meine Texte vordergründig lesen. Dann sind sie manchmal ziemlich ernst, im Fall von "Clara" fast schon tragisch. Ich hoffe jedoch, der Leser nimmt auch die ironische Ebene wahr: die Selbstironie des Erzählers, die Ironie des Autors gegenüber seinem Gegenstand. Das ist ein Buch, das sich auch über sich selbst lustig macht: mit seinen Exzessen, seinen Manieriertheiten. Es gibt immer wieder Elemente, die die Geschichte oder die Emotion kurzschließen. Denn wenn ich schreibe, schwanke ich ständig zwischen Ernst und Ironie hin und her. Ich will weder auf das eine noch auf das andere verzichten. "

    Für Éric Laurrent, wie für die meisten Minuit-Autoren, ist das eine prinzipielle Erwägung, eine Auffassung von Literatur, die quer zu den Moden des Buchmarktes steht.

    " Wir können heute eine Geschichte nicht mehr einfach so wie früher erzählen. Denn die überlieferten Formen sind von unseren Vorgängern entwertet worden. [...] Man hat aber trotzdem den Eindruck, das heute die meisten Schriftsteller zu sehr konventionellen, unoriginellen, beinahe rückschrittlichen Formen zurückfinden. Wenn man das aber tut, wenn man sich, wie ich auch, gewissermaßen für die bildliche Darstellung entscheidet, dann kann man das nur mit Ironie tun. Ich bediene mich also konventioneller Formen, mache mir aber nichts vor: Ich weiß nur zu gut, dass diese Formen überholt sind. Also zeige ich dem Leser, dass ich diese Formen beherrsche und gleichzeitig ironisch mit ihnen umspringen kann. Diese Haltung ist natürlich ein wenig schizophren. Doch muss man sie meiner Meinung nach einnehmen. "

    In den letzten Jahren punktete die französische Romanliteratur - Stichwort Michel Houellebecq und Nachahmer - exporttechnisch vor allem durch ihre sexuelle Tabulosigkeit. Auch mit ihr spielt Éric Laurrent immer wieder voller Ironie. Doch beschreibt sein Roman "Clara" auch andere gesellschaftliche Phänomene: so die Verbürgerlichung der ehemaligen Pariser Arbeiterviertel am Beispiel einer "hippen" Bar und ihrer Besucher oder die Pseudoverwissenschaftlichung der Sprache am Beispiel der Phrasen eines Produktchefs für Trockenfleisch. Im Mittelpunkt allerdings stehen bis zum Schluss die Unwägbarkeiten und Widersprüche männlicher Emotionen. Für Éric Laurrents Erzähler, der Gefühle bis dahin nur als "Idiotenfalle" angesehen hat, wird das Rätsel des schockartigen Verliebens zum existentiellen Wendepunkt, zum Anstoß, die Welt neu zu besichtigen.


    Eric Laurrent
    "Clara"
    (Rowohlt Verlag)