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Mehr als das Warten auf den Anschlussflug

Menschen landen, fliegen weg, steigen um und warten auf Reisende. Ein Flughafen ist der ideale Ort, um Geschichten von Menschen zu erzählen. Angela Schanelec entwickelt in "Orly" fiktive und dokumentarische Momentaufnahmen des Wartens, der Ankunft und des Abschieds.

Von Josef Schnelle | 04.11.2010
    Ein Flughafen. Was geschieht eigentlich zwischen den Flügen? Lauter langweilige Wartezeit? Oder fängt in irgendeiner Ecke vielleicht eine Liebesgeschichte an? Wird eine lange geplante Trennung schließlich vollendet? Stehen die Menschen ganz im Banne ihres Reisezieles? Die deutsche Regisseurin Angela Schanelec hat solche Geschichten ausgesponnen und dann ihre professionellen Schauspieler meist paarweise mitten unter die normalen Reisenden gesetzt.

    Auf ein verabredetes Zeichen hin hat sie sie dann aus großer Entfernung gefilmt. Wie sie es geschafft hat, die Kamera für die Passanten in ihrem Film derart konsequent zum "Verschwinden" zu bringen? Das ist nicht so leicht zu klären. Vielleicht hat die klobige Kamera einfach so lange rumgestanden bis sie zur Landschaft der Innenarchitektur des Pariser Stadtflughafens "Orly" einfach dazu gezählt wurde. Jedenfalls ist jede Szene in diesem Film voller Menschen, die sich um die Mitwartenden nicht kümmern und auch nicht zu wissen scheinen, dass sie von einer Kamera beobachtet werden.

    Die Spielszenen wirken wie herausgegriffen aus dem Strom des Lebens. Zwei junge Leute lernen sich kennen. Er hat sich entschieden wieder nach Paris zu ziehen. Sie sehnt sich dahin zurück. Daraus könnte was werden. Eine Mutter und ihr Sohn sind auf dem Weg zur Beerdigung des Vaters, zu dem sie lange schon den Kontakt verloren hatten. Und eine Frau fasst endlich den Mut, den Brief ihres Mannes zu lesen, der sie vor kurzem verlassen hat.

    "Sehr viel später, die Straße war weiterhin menschenleer, ging die Tür wieder auf. Die junge Frau trat aus dem Haus und kam geradewegs auf mich zu. – Ich soll Ihnen sagen, dass er schon lange keine Gäste mehr empfängt und auch keine Interviews mehr gibt. Autogramme hat er sowieso noch nie gegeben. Daran sei nichts zu ändern, sagte sie, ganz ruhig und bestimmt, den Auftrag, den sie zu haben schien, mit dem größten Ernst zu Ende bringend."

    Nicht nur der Brief bringt die literarische Seite dieses deutschen Films, der in Französisch gedreht worden ist und jetzt mit deutscher Untertitelung ins Kino kommt zum Klingen. Selten waren Kino und Literatur so eng beisammen wie im Kino von Angela Shanelec. Im Schutze der Anonymität des Flughafens kommen die Figuren manchem Geheimnis auf die Spur und enthüllen die Hintergründe und die verborgenen Wahrheiten ihrer Lebensgeschichten. Die nicht handelnden Personen, die Passanten, die mit auf den Film gebannt werden, sind aber ebenso wichtig wie die Schauspieler in ihren Rollen. Man könnte sich jederzeit vorstellen zu jeder anderen Person in der Position nebenan und zu deren Lebensgeschichte zu springen. Dieses Spannungsverhältnis zwischen dem Dokumentarischen und dem inszeniert Theatralischen machen den Film zu einem ganz besonderen künstlerischen Ereignis. Am Ende musste Angela Shanelec die Bühne räumen, die sie erzeugt hatte. Ein nicht näher erklärter Grund hat eine Evakuierung zur Folge, die klar macht, dass die wahre Schönheit der Architektur nur durch die Menschen entsteht, die sie bewohnen.

    "Aufgrund eines unerwarteten Ereignisses ist der Luftverkehr vorübergehend unterbrochen und der Flughafen soll komplett evakuiert werden. Alle sich in dem Flughafengebäude befindenden Personen sollen bitte zu den Erdgeschossausgängen gehen."