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Mehr als Triller

Die berüchtigte Teufelstriller-Sonate von Tartini darf natürlich nicht fehlen auf der "Virtous" betitelten Debüt-CD des Geigers Ray Chen. Doch bevor er seine Fingerfertigkeit unter Beweis stellt, kommt erst mal etwas ganz anderes.

Von Maja Ellmenreich | 27.03.2011
    Streng, ein bissig grimmig, fast schon verbissen wirkt der junge Geiger Ray Chen auf dem Cover seiner neuen CD, seiner Sony-Debüt-CD. Hinter ihm rauscht ein knallorangefarbener U-Bahn-Waggon vorbei, doch Ray Chen lässt sich nicht beirren. Er fixiert mit seinem Blick den Geigenbogen, der über die Saiten seiner Stradivari flitzt - so schnell wie die U-Bahn im Hintergrund.

    "Virtuoso" heißt diese neue Platte - so steht es in dicken Lettern auf dem Cover.

    Ein Titel, ein Bild - da hört man förmlich die Musik: irrwitzig schnelle Läufe, gewagte Sprünge und Verzierungen. Doch erst einmal kommt alles ganz anders!

    " Giuseppe Tartini: Sonate für Violine und Klavier g-moll
    I. Larghetto (Ausschnitt) "

    Es geht auf, das Spiel mit der Erwartungshaltung. Wer Giuseppe Tartinis Teufelstriller-Sonate nicht kennt, rechnet nicht mit solch einer innigen Musik. Tartini bereits überraschte im 18. Jahrhundert sicher sein Publikum, Fritz Kreisler ebenso - er hat die Sonate neu herausgegeben. Und auch Ray Chen gelingt der Coup. Es wirkt, als wollten alle drei uns sagen: "Moment noch!" Bevor sich der Virtuose in Rage spielt, möchte er sich erst einmal von seiner tiefgründigen, seiner melodiös-elegischen Seite zeigen.

    Ist dieser Beweis erbracht, kann es losgehen.

    " Giuseppe Tartini: Sonate für Violine und Klavier g-moll
    II. Allegro energico (Ausschnitt) "

    Hier und da trillert es zwar schon leicht diabolisch, doch noch hat der Teufel nicht sein wahres Gesicht gezeigt. Der Teufel, so behauptete Tartini, der ihm im Traum erschienen war und ihn zur Komposition dieser Sonate angeregt hatte. Bis zu den namensgebenden Trillern im dritten Satz hat der in Taiwan geborene und in Australien aufgewachsene Ray Chen Gelegenheit, uns mit seinem betörenden Geigenklang für sich zu gewinnen. Strahlend und klar in der Höhe, satt und dennoch schlank in der Mitte, doch eigentlich am schönsten in der Tiefe: kraftvoll, rund und stattlich. Die Stimme von Ray Chens Stradivari lässt einen nicht los, hat etwas Magnetisches. Und die Art der Aufnahme trägt noch mal ihren Teil dazu bei: Ganz präsent ist die Geige, weit vorne, im Fokus, sodass das Klavier zuweilen nur die Begleitmusik liefert. Noreen Polera heißt die Frau am Flügel, doch nach ihrem Namen muss man auf der CD regelrecht suchen, von einem Foto oder gar einer Kurzbiografie ganz zu schweigen. Ray Chen steht im Rampenlicht: musikalisch, aufnahmetechnisch und was das Marketing angeht. Gegen Ende von Tartinis g-moll-Sonate, da gehört ihm die Bühne dann ganz allein. Zeit für die Teufelstriller.

    " Giuseppe Tartini: Sonate für Violine und Klavier g-moll
    III. Allegro assai (Ausschnitt) "

    Triller und kein Ende. Nach dieser Passage bedarf es keines Beweises mehr, dass Ray Chen - man beachte: Jahrgang 89 - dass er nicht zu dick aufgetragen hat mit dem Titel seiner CD "Virtuoso". Er ist ein solcher, ein Meister seines Instrumentes.
    Wie eine Bestätigung wirkt die Wahl des nächsten Stückes, das Ray Chen in dem Begleittext zur CD als seinen "Seelentröster" ankündigt: Johann Sebastian Bachs Chaconne. In diesem weltberühmten Satz aus der d-moll-Partita für Violine solo sind Fähigkeiten gefragt, die weit über eine beeindruckende Fingerfertigkeit hinausgehen. Nicht ohne Grund wird die Chaconne schließlich als Meilenstein, als allumfassender Kosmos, als Monument des Violinrepertoires verstanden: Sie "schön" zu spielen, reicht bei Weitem nicht aus. Wer sich an die Chaconne heranwagt, muss wissen, wohin die Reise führen soll. Schließlich gilt es, rund 15 Minuten Musik ganz allein zu gestalten. Und Ray Chen gelingt auch das. Er spielt mit einer Präsenz und einer Dringlichkeit, die einen dazu zwingt, ihm zu folgen. Aber forciert klingt da nichts. Emotionale Höhen und Tiefen erkundet er so intensiv, dass die abstrakten Gefühle greifbar werden. Diese eigentlich doch absolute Musik verwandelt sich bei Chen in eine nahezu konkrete Erzählung.

    " Johann Sebastian Bach: Chaconne aus Partita d-moll, BWV 1004 (Ausschnitt) "

    Und jetzt? Das Stück, das auf Bachs Chaconne folgt, will gut überlegt sein. Eigentlich gibt es nur eine Möglichkeit. "Now for something completely different", sagt der Brite in solchen Fällen und ändert die Richtung. Ray Chen verspricht in seinem Booklettext ja auch, dass für jeden Geschmack etwas dabei sei. Also folgt auf das 18. das 19. Jahrhundert, auf Köthen folgen London und Paris, auf Bach folgt Henri Wieniawski.

    Doch Virtuos ist nicht gleich virtuos. Das wird deutlich, wenn Ray Chen mit Wieniawski einen ganz anderen Virtuosentypen ins Spiel bringt. Um möglichen Vorwürfen gleich den Wind aus den Segeln zu nehmen, spricht Chen dem polnischen Komponisten einen gewissen Tiefgang ab, aber er lobt ihn für die Leidenschaft und das Temperament in seiner Musik. Der Geiger Henri Wieniawski hat für sein eigenes Notenpult komponiert: Die Kenntnisse dafür hatte er sich am Pariser Konservatorium angeeignet, bevor er - wie ein Handelsreisender in Sachen Musik - durch ganz Europa tourte. Unablässig gab er Konzerte, ohne Rücksicht auf seine Gesundheit. Bei seinen zahllosen Auftritten erfuhr Wieniawski, was dem Publikum gefällt. Und der Wunsch des Publikums war ihm Befehl: Sangliche Themen, bravouröse Spieltechnik, virtuose Feuerwerke - darauf verstand sich Henri Wieniawski, der 1835 in Lublin als Henryk Wieniawski zur Welt gekommen war. In Polen richtet man ihm zu Ehren denn auch bis heute alle fünf Jahre einen angesehenen Wettbewerb für junge Geiger aus.

    Mit Wettbewerben ist Ray Chen bestens vertraut: Im walisischen Cardiff gewann er 2008 den Yehudi-Menuhin-Wettbewerb, und 2009 erstürmte er den Wettbewerbsolymp mit dem ersten Preis beim Brüsseler "Concours Reine Elisabeth". Wer das geschafft hat, kann sich in der Regel aus dem Wettbewerbsgeschäft zurückziehen und voll und ganz der Konzertkarriere widmen. So haben es vor Ray Chen auch Vadim Repin, Nikolaj Znaider und Baiba Skride getan - allesamt einst Gewinner in Brüssel. In einem Interview mit der Musikzeitschrift Fono Forum wiegelte Ray Chen vor Kurzem aber ab: "Nach Wettbewerbserfolgen tun sich Möglichkeiten auf", sagte er, "aber es ist letztlich entscheidend, was man daraus macht."

    Ein Plattenvertrag mit Sony, ein voller Konzertkalender, Debüts bei großen Orchestern und in weltberühmten Konzertsälen - Ray Chen scheint etwas daraus zu machen.

    " Henri Wieniawski: Variationen über ein eigenes Thema A-dur, op. 15 (Ausschnitt) "

    Henri Wieniawskis Variationen über ein eigenes Thema, opus 15. Mit ihnen kommt Ray Chen dem traditionellen Virtuosenimage am nächsten. Nicht zu vergessen: Chens Sony-Debüt trägt den Titel "Virtuoso". Die knapp 80 Spielminuten aber gehören nicht nur Literatur, die zirzensische Kunststücke zu bieten hat. Nach Tartinis Teufelstrillersonate, Bachs Chaconne und zwei Kompositionen von Henri Wieniawski weiß Ray Chen mit seiner Klavierpartnerin Noreen Polera noch mal eine ganz andere Musiksprache zu sprechen: die des Franzosen César Franck, der 1886 eine Violinsonate schrieb und sie - im übertragenen Sinne - mit einer Schleife versah. Denn die A-dur-Sonate war ein Geschenk: zur Hochzeit des Geigers und Komponisten Eugène Ysaÿe. Dieses über weite Strecken träumerische und entrückt wirkende Stück spielt Ray Chen mit weit weniger Forcierung als die vorangegangenen Werke auf der CD. Zart ist sein Geigenton, schimmernd die Klangfarben, organisch sein Zusammenspiel mit der Pianistin Noreen Polera, auch wenn der Klang des Flügels wieder nicht genügend Raum bekommt. Hier geht es um Ray Chen, das ist klar!

    Sony Classical setzt haushoch auf den jungen Geiger, die nächste CD ist in Vorbereitung: eine Aufnahme mit Orchester, so wie es sich gehört. Die Erwartungen an Ray Chen sind offensichtlich große. Mit seinem beeindruckenden kammermusikalischen Debüt erfüllt er auf alle Fälle schon mal einen gehörigen Teil.

    " César Franck: Sonate für Violine und Klavier a-moll, op. 15
    II. Allegro (Ausschnitt) "

    Werke von César Franck, Henri Wieniawski, Johann Sebastian Bach und Giuseppe Tartini spielt der junge Geiger Ray Chen auf seiner ersten CD für das Label Sony Classical. "Virtuoso" heißt sie und vorgestellt hat sie Ihnen Maja Ellmenreich.

    Diskografie

    "Virtous"
    Ray Chen, Violine
    Noreen Polera, Klavier
    Werke von Giuseppe Tartini, Johann Sebastian Bach, Henri Wieniawski und César Franck
    Sony Classical (LC 06868) 88697808122