Samstag, 20. April 2024

Archiv


Mehr Angst vor Moskau als vor dem Atom

In diesen Tagen jährt sich der Reaktorunfall von Tschernobyl, die bisher größte Atomkatastrophe. Zwar wird heftig gestritten, wie hoch die Opferzahlen tatsächlich sind, doch sprechen die Leiden der Opfer eine deutliche Sprache. All das hält nun just die Ukraine nicht davon ab, in Zukunft auf die Kernkraft zu setzen. Aus Kiew Florian Kellermann:

24.04.2006
    Am Stadtrand von Kiew, an der Ausfallstraße Richtung Westen, steht ein kleines Denkmal. Das Modell eines Atoms, darüber drei Vögel, die kopfüber auf den Boden zustürzen. Die wenigsten Kiewer kennen es, und auch die Autofahrer, die hier mit 80 Kilometern pro Stunde vorbeirasen, dürften es kaum bemerken.

    Tschernobyl liegt nur 80 Kilometer nördlich der ukrainischen Hauptstadt. Jeder hier erinnert sich an den Reaktorbrand und seine tragischen Folgen - aber in der öffentlichen Diskussion spielt er keine Rolle. Selbst zum 20. Jahrestag berichten die Medien nur sporadisch über die Katastrophe.

    " Glauben Sie, das ist so einfach, sein Dorf zu verlassen? Und hier in dieser anonymen Großstadt zu leben? Zweimal bin ich an der Schilddrüse operiert worden. Ständig bin ich krank. Aber hier interessiert das niemanden. Ich habe nur noch eine Hoffnung im Leben: Dass wenigstens meine Enkel gesund aufwachsen. "

    Die 56-jährige Rentnerin Galina Kutscheruk, die zufällig am Tschernobyl-Denkmal vorbeikommt, weint fast. Sie fühlt sich mit ihren Erinnerungen an die Tragödie, die sie aus nächster Nähe erlebt hat, allein gelassen.

    Die ukrainische Öffentlichkeit verdrängt das Jahr 1986 wie einen bösen Traum. Das zeigt sich auch in der Energiepolitik. Die Pläne der Regierung, zwölf neue Atomkraftwerke zu bauen, unterstützen die meisten. Ohne zu fragen, wie sicher die Anlagen sein werden.

    Der 31-jährige Werbeagent Pawel Doroho, der beim Tschernobyl-Denkmal eine Flasche Bier trinkt, stammt auch aus der Nähe des ehemaligen Atomkraftwerkes. Letztes Jahr starb einer seiner Schulkameraden an Krebs.

    " Wir brauchen doch Strom. Schließlich wollen abends nicht im Kerzenschein sitzen. Am besten stellen wir viel Strom her, dann können wir den Überschuss ins Ausland verkaufen. Natürlich muss alles unter Kontrolle bleiben. So eine Nachlässigkeit wie in der Sowjetunion dürfen wir uns nicht mehr leisten. Wenn die Sicherheitsvorschriften beachtet werden, dann - denke ich - ist so ein Atomkraftwerk sicher. "

    Schon heute verdient die Ukraine an der Atomenergie. Sie exportiert Strom, zum Beispiel nach Ungarn. Präsident Viktor Juschtschenko machte vor kurzem sogar den Vorschlag, Atommüll aus anderen Ländern in Tschernobyl zu lagern. Das geht für Pawel Doroho dann aber doch zu weit.

    " Das wird nicht passieren. Dagegen würden die Ukrainer auf die Barrikaden gehen. Den Dreck aus anderen Ländern wollen wir nicht haben. "

    Vor der Parlamentswahl im März forderte nur eine Partei den Atomausstieg - die ukrainischen Grünen. Die Wähler konnten sie davon nicht überzeugen. Die Grünen bekamen nur ein halbes Prozent der Stimmen. Auch bei den gleichzeitig stattfindenden Regionalwahlen erlebten sie ein Debakel.

    Der Vorsitzende der Grünen Witalij Kononow hat diesen Schock noch nicht verdaut.

    " Ich bin ratlos. Die anderen Parteien haben in ihren Programmen überhaupt nicht gesagt, woher der Strom in der Ukraine kommen soll. Wir haben zwei Millionen Unterschriften gegen die Atomenergie gesammelt. Aber diese Menschen haben uns nicht gewählt. Das hat vielleicht psychologische Gründe. Möglicherweise können die Menschen das Thema nicht mehr hören. "

    Auch der Gaskonflikt mit Russland im vergangenen Winter jagte vielen Ukrainern Angst ein. Das Nachbarland im Osten drosselte für kurze Zeit die Lieferungen, um Druck auszuüben und einen höheren Preis zu erzwingen. Atomenergie könnte die Ukraine in Eigenregie produzieren. Die Uranvorkommen reichen nach Schätzungen für 200 Jahre. Noch werden die Brennstäbe aus Russland und den USA importiert. Aber Pläne für eine Urananreicherung im Land gibt es bereits.

    Die 36-jährige Verkäuferin Aljona, die mit ihrem Mann am Tschernobyl-Denkmal spazieren geht, hat die Grünen gewählt. Sie glaubt, dass es noch lange dauert, bis die Ukrainer ein Bewusstsein für die Umwelt entwickeln.

    " Die Menschen sind arm. Deshalb wählen sie die Parteien, die ihnen Wohlstand versprechen. Die meisten kümmern sich nur um ihre unmittelbare Umgebung. Hundert Meter von hier zum Beispiel sollte ein Park platt gemacht werden. Da haben die Anwohner protestiert, Zelte aufgestellt und im Park übernachtet. Die 35 Jahre alten Bäume sind aber trotzdem gefällt worden. "