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Mehr Atmosphäre als Analyse

Réné Halkett, 1900 als Adelsspross in Weimar geboren, schlug in der Weimarer Republik einen unkonventionellen Weg als Journalist, Künstler und Gelegenheitsarbeiter ein. 1936 emigrierte er nach England. Dort begann er eine Bestandsaufnahme der Hitlerschen Machtergreifung. Das Buch erschien 1939 in englischer Sprache unter dem Titel "The Dear Monster". Nun wurde es erstmals ins Deutsche übersetzt.

Von Tanya Lieske | 26.01.2012
    Im Februar des Jahres 1900 schickt die Weimarer Familie von Fritsch nach einer holzgeschnitzten Wiege für den erstgeborenen Sohn der Familie. Auf dem Weg nach Weimar verschwindet die traditionsreiche Wiege genau so wie die frisch gestärkte Säuglingswäsche. Der Stammhalter Albrecht Georg Friedrich Freiherr von Fritsch muss mit Servietten und einem normalen Wäschekorb vorlieb nehmen.

    39 Jahre später veröffentlicht der besagte Freiherr seine Lebenserinnerungen unter dem bürgerlichen Namen Réné Halkett in London, und natürlich beginnt er seine Lebensgeschichte mit dem anekdotischen Auftakt um den Wäschekorb. Damit empfiehlt sich der weitestgehend unbekannte Halkett dem englischen Publikum als ein Autor, der die Pointe genauso zu schätzen weiß wie britisches Understatement.

    "Ich fand den Korb bequem genug und es war, wie schon gesagt, ein recht bezeichnender Auftakt für viele zukünftige Ereignisse in meinem Leben."

    Als wacher Beobachter, der 1936 aus Deutschland emigriert ist, zeigt sich Halkett auch im Exil noch heimatverbunden. Dafür steht der kuriose Originaltitel dieses Buchs "The Dear Monster", also "Das liebenswerte Monster". Dieser Titel geht auf ein hessisches Volksmärchen zurück, das der Autor in seiner Jugend hörte, und das nun auch der deutschen Übersetzung vorangeht: "Der liebe Unhold". Gemeint ist mit "Unhold" wie "Monster" das Deutsche Reich am Vorabend des Zweiten Weltkriegs.

    Halkett gelingt es, dessen zerrissene Gemütslage und innere Gleichschaltung mit großer Sensibilität zu umreißen. Zugleich ist dieses Buch, dem in der deutschen Übersetzung der erklärende Untertitel "autobiografisches Zeitporträt" hinzugefügt wurde, eher Bestandsaufnahme denn politische Schrift. Es überwiegt der biografisch grundierte Charakter. Das Buch verläuft chronologisch von 1900 bis zum Zeitpunkt der Niederschrift 1939, und es bezieht seinen Reiz öfter aus der Fülle der Details als aus der rückwirkenden Einordnung derselben. Mehr Atmosphäre als Analyse. Dafür wird der Leser reich beschenkt mit Einsichten in das soziokulturelle Submilieu der Weimarer Republik, welches René Halkett rastlos durchstreift als Wandervogel und Bohemien, als Künstler, Autor, Journalist und als einer der vielen, Menschen die mit dem Zusammenbruch des Kaiserreichs alle Sicherheiten verloren haben. Halkett selbst wird in den frühen Tagen der neuen Republik seinen Adelstitel ablegen, sich in harten Zeiten als Hilfsarbeiter und Packer durchschlagen. Insofern folgt der Leser ihm gerne, wenn er seinen Wäschekorb auch symbolisch belegt.

    Réné Halkett alias Freiherr von Fritsch war als Stütze der alten ständischen preußischen Gesellschaft sozialisiert worden. Das Weimar seiner Kindheit beschreibt er als einen kulissenhaften, vergnügungssüchtigen Ort, der sich seit Goethes Zeiten kaum verändert hat. Dabei zeigt sich Halketts Fähigkeit, mit Charme und leichter Ironie die Atmosphäre einer versunkenen Epoche heraufzubeschwören.

    "Tatsächlich glaube ich, dass die ganze Stadt nur die Kulisse einer Bühne war und wir alle waren die Schauspieler in einem Stück mit dem Titel 'Leben in der Residenz'. Und ich frage mich, ob es überhaupt ein Publikum gab. Denn jedermann gehörte irgendwie zur Aufführung. Da gab es den Hof und die Gesellschaft mit ihren Bediensteten und Lakaien in Livrée, es gab die unzähligen Ladenbesitzer und Handwerker, die den Hof zu Sachsen-Weimar-Eisenach belieferten; da waren 'unsere armen Leute', die sozusagen den jeweiligen guten Familien zugeteilt waren; und es gab die Hofschauspieler, Mitglieder der Großherzoglichen Akademie der Künste und der Musikakademie. Und alle diese Leute lebten in einer Stadt von, wenn ich mich nicht irre, 27000 Einwohnern." (S. 23).

    Halketts Vater, der selbst Offizierskadett im Dienste Preußens gewesen war, schickt den Sohn kaum 14-Jährig in die Kadettenanstalt in Naumburg an der Saale. Der junge Freiherr wird für den Dienst im Grade des Offiziers erzogen. Er lernt, so nennt er es selbst, das "Soldatenhandwerk", dient einer "Soldatenzunft". Bis zum Ende dieses Buches ist die militärische Prägung des Autors spürbar, etwa wenn er mit durchaus bewegtem Interesse die Uniformen der paramilitärischen Einheiten Hitlers nach Schnitt, Form und Tradition begutachtet. Halkett war kein Pazifist. Und er übt eine geradezu noble Diskretion. Mit persönlichen Bekenntnissen geht er sparsam um, der Leser muss etliche Leerstellen selbst füllen. Das gilt für Halketts bewegtes Privatleben – er war vier Mal verheiratet – genau so wie für mögliche Reibungen, die zwischen seiner Herkunft und seinem späteren, bohemienhaften Lebenswandel entstanden sein mögen. Tatsächlich bot die frühe Weimarer Republik Lebensformen, wie man sie erst in der 70er-Jahren der späteren Bundesrepublik wieder findet: Man findet in Halketts Bericht Wohn- und Künstlergemeinschaften, Aussteiger, Vagabungen, Kommunisten und reformerische Geister jedweder Couleur.

    "Für mich war es eine angenehme Überraschung, festzustellen, dass ich kein Ausnahmefall war, sondern dass sich mittlerweile eine Art Parallelgesellschaft entwickelt hatte, also eine Lebensform existierte, die einen auffing, wenn man mit dem Rest an Normalität, der noch in Deutschland existierte, nicht zurechtkam. Vermutlich gibt es nichts, das so abnorm wäre, um nicht doch eine Gestalt anzunehmen, die dann wiederum ernsthaft als Normalität angenommen wird." (175)

    Diesem Zustand vorausgegangen war 1918 der Zusammenbruch jeglicher Norm. Der junge Mann erlebt das Ende Ersten Weltkriegs und die Abdankung des deutschen Kaisers als Zeitenwende. Noch zwei Jahrzehnte nach dem Ereignis ereifert sich Halkett, er spricht von der "feigen Flucht (des) obersten Repräsentanten" und wirft Wilhelm II mehrmals vor, nicht als Ehrenmann gehandelt zu haben, dem Kodex seines Standes gemäß, da er in auswegloser Lage nicht Selbstmord begangen habe. Weniger der Inhalt dieser Forderung ist bemerkenswert als der große Nachdruck, mit dem sie vorgetragen wird. Für den Leser wird hier deutlich, wie reißend jener Strudel der Auflösung war, der alle Stände, Klassen und Schichten nach 1918 erfasste. Es herrschte das sprichwörtliche Vakuum des Seins, ein eisiger Hauch wehte durch die erste deutsche Republik:

    "Es gab nicht Unverrückbares, Sicheres oder Selbstverständliches in meiner Welt. Jeden Fußbreit des Bodens, auf dem man stand, musste man erst erschaffen. Es ging nicht nur um die 'freieste Republik der Welt', wie es hieß, sondern auch der Einzelne stand vor einem Vakuum absoluter Freiheit. .... Niemals vorher hat es eine für Propheten so vorteilhafte Zeit gegeben und in kaum einem anderen Land gibt es so viele und fanatische Propheten wie in Deutschland." (S. 207f)

    Réné Halkett bezeichnet seine Generation im Anschluss an die britische Terminologie als "verlorene Generation". Er selbst tritt eine fast zwei Jahrzehnte währende räumliche und geistige Wanderschaft an. Er beginnt ein Studium und bricht es ab, er lebt in Gießen, Darmstadt, Frankfurt und Berlin. Halkett gehört zur Gründungsgeneration der Bauhausschule von Weimar, er arbeitet als Journalist an der "Vossischen Zeitung", lernt tanzen an der Lohelandschule, überwintert in einer Kate auf der Rhön, schifft ein für eine Weltumsegelung und lässt sich zum Piloten ausbilden, die Aufzählung ist nicht vollständig. Als roter Faden aber zieht sich durch jene Jahre seine frühe Bekanntschaft mit der Wander- und Jugendbewegung, deren diverse Gruppierungen er mit einer Mischung aus Sehnsucht nach Zugehörigkeit und ebenso haltbarem Argwohn betrachtet.

    Intime Kenntnis und nüchterne Außensicht ermöglichen es ihm, schon 1939 auf einen Umstand aufmerksam zu machen, der erst viel später in den Fokus der Totalitarismusforschung gelangen sollte. Es geht um die Affinität der Jugendbewegungen zu dem mystisch überhöhten Natur- und Körper- und Gemeinschaftskult des Nationalsozialismus. Das Thema beschäftigt Halkett sehr. Hier eine seiner zahlreichen Ausführungen:

    "Während des Krieges gab es nur eine Gruppe, die ernsthaft an einen dauernden Burgfrieden glaubte – die Jugendbewegung. In ihr wurde zum ersten Mal verkündet, dass Meinungen nicht wirklich wichtig waren oder genauer, keine der intellektuell erworbenen Ansichten. Durch sie wurden Schlagworte erfunden, die später von Hitler, Goebbels und Konsorten übernommen wurden. Keine Politik. Kein System. Gefühle. Blut. Glaube. Begeisterung. Und über allem: Gemeinschaft, dieses Wort, das den deutschen so mystisch und übernatürlich in den Ohren klingt." (S. 112)

    Réné Halkett ist ein Chronist, der sich notwendigerweise in den Begriffen seiner Epoche bewegt. So geht er mehrfach ein auf das "deutsche Wesen", dessen besondere Beschaffenheit er seinen englischen Lesern nahe bringen will. Er denkt und argumentiert mit Wendungen, die seine biografische Nähe zu den lebensreformerischen Bewegungen der Weimarer Republik belegen. Damit ist der oft farbige, sehr lebendige Inhalt seiner Ausführungen genauso beschrieben wie die Grenze des Unternehmens. Noch 1939 bagatellisiert Halkett die Gefahr eines deutschen Nationalismus. Er erkennt den repressiven Charakter des Regimes nach innen, nicht aber die aggressiven und revanchistischen Potentiale der Hitlerschen Außenpolitik. Auch die späteren Folgen der nationalsozialistischen Rassenlehre übersteigen wohl alles, was Halkett zum Ende der 30er-Jahre für denkbar hielt.

    Aus dem weiteren Verlauf seines Lebens ist zu berichten, dass er England im Krieg gegen Deutschland diente, dass er unter anderem 1945 bei den Nürnberger Prozessen dolmetschte. Es wäre mehr als interessant, zu erfahren, wie Halkett aus damaliger Sicht seine früheren Ausführungen bewertete. Halkett nahm 1946 die britische Staatsbürgerschaft an und starb 1983 in Camelford. Ein Autor, den es auf vielen Zeitebenen zu lesen und wieder zu entdecken gilt. Gewürdigt seien hier noch die Neuauflage seines Werks im Kölner Verlag Edition Memoria und die Übersetzungsleistung Ursula C. Klimmers, die den Text in ein flüssiges Deutsch übertragen und mit vielen nützlichen Anmerkungen versehen hat.

    Réné Halkett: "Der liebe Unhold". Autobiografisches Zeitporträt von 1900 bis 1939,
    Edition Memoria, 488 Seiten Broschur, 36 Euro