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Mehr Genuss als Askese

Das Bild der Deutschen ist stärker vom Schweren als vom Leichten geprägt. Zu Unrecht, wie Erwin Seitz in seinem Buch zeigt: Darin erscheinen unsere Vorfahren als durchaus lebenslustiger, genussfreudiger und auch sonst den Dingen des Lebens nicht gerade abgeneigter Menschenschlag.

Von Jürgen Ritte | 21.02.2012
    Ja, wir Deutschen. Selten himmelhoch jauchzend, meistens zu Tode betrübt. Dabei hatten wir zuletzt kaum Anlass zur Klage. Im Gegenteil ! Jogi Löws multikulturelle Fußballertruppe kickt und stürmt und spielt so elegant und jugendlich unbeschwert, dass es eine helle Freude ist und sogar den stets kriegerisch gesinnten Kollegen in den angelsächsischen Sportredaktionen die Sprache verschlagen hat. Keine Panzer, kein Bumm-Bumm, keine "Realpolitik" auf dem Sportplatz, sondern, O-Ton und auf Deutsch: von "Spielkultur" ist die Rede.

    Und nicht nur an deutschen Autos und blonden deutschen Fräuleins erfreut man sich in Paris und anderswo, sondern auch am deutschen Film und, man höre und staune, an deutschem Gesang. Nein, nicht Fischer-Dieskau, sondern Tokyo Hotel oder Ute Lempert. In Marseille singt eine durch und durch französische Rockgruppe mit Karl-Lagerfeld-Akzent, weil das einfach "chic" ist, und aus allen Teilen der Welt, von Israel über Italien und Frankreich bis in die USA und Russland, strömen die Jungen und Kreativen nach Berlin, wo das Leben eine permanente Party zu sein scheint.

    Selbst in den besten Tagen der Weimarer Republik hat dieses Bermuda-Dreieck an Havel und Spree keine vergleichbare Sogwirkung ausgeübt wie heute - derweil der Pariser Bürgermeister eine teure Task-Force eingerichtet hat, die darüber nachdenken soll, wie dem Nachtleben der französischen Metropole auf die Sprünge zu helfen sei, auf dass die Jugend der Welt sich auch wieder einmal an der Seine einfinde.

    Ja, und für den deutschen Touristen im welschen Ausland ist es längst zur Ehrensache geworden, "prosciutto con melone" zu bestellen und "spaghetti alle vongole", dazu einen Prosecco zu schlürfen, bevor er in schönster Weltläufigkeit "il conto" ordert.

    Alles bestens also. Wir sind in der Zivilisation angekommen, können uns freuen, ohne zu grölen, können genießen, ohne zu schlingen, können liebenswürdig und urban auftreten. Und dann das: Eine deutsche Pastorentochter und Kanzlerin aus der Uckermark betritt die Weltbühne, hebt den Zeigefinger und bedeutet all unseren Freunden in der Welt, ausgerechnet jetzt, wo es doch gerade so schön war, dass nun Schluss mit lustig sei.

    Die Lage sei ernst, fortan müsse fleißig gespart werden. Griechen und andere Hallodris hätten nun erst einmal "ihre Hausaufgaben zu machen", bevor sie wieder spielen gehen dürften. Denn sonst, nicht wahr, gibt's kein Taschengeld.

    Und mit einem Mal holen uns die alten Dämonen wieder heim. Die einen sehen bereits Pickelhauben durch die Welt marschieren, die anderen malen der Kanzlerin einen hässlichen Schnauzbart unter die Nase, wieder andere sehen ein "Rule Germania" über Europa heraufziehen. Sind wir also doch die genussfeindlichen Schulmeister, die taktlosen Präzeptoren einer Kleinsparerexistenz, die ewigen Banausen, die vielleicht eine freudlose Moral für sich, das Leben aber gegen sich haben?

    In einem solchen Moment des Zweifels kommt, gerade zur rechten Zeit, Rat und Trost von einem richtig dicken Buch. Sein Titel, "Die Verfeinerung der Deutschen", mag sich anhören wie ein Missionsprogramm. Das ist es in gewisser Weise auch. Aber der Autor, Erwin Seitz, ist alles andere als ein sauertöpfischer Missionar, der uns mit einem neuen Benimmbuch behelligt. Der gute Mann, 1958 im fränkischen Wolframs-Eschenbach geboren, ist gelernter Metzger und Koch, hat, ach!, Philosophie studiert, Germanistik auch und Kunstgeschichte, heißt Doktor gar, und ist auch sonst ein kluger Mensch.

    Denn wer sich so kompetent um den Zusammenhalt von Leib und Seele stets aufrichtig bemüht, wer mit der gleichen leichtfüßigen Eleganz Feder und - vermutlich - Kochlöffel zu handhaben weiß, dem dürfen wir vertrauen. Was also hat es auf sich mit der "Verfeinerung der Deutschen"? Hören wir Erwin Seitz zunächst selbst:

    Es ist ein alter Traum der Menschen, vom Schweren zum Leichten zu gelangen. Es gibt dafür im Wesentlichen zwei Mittel: die Sitten und die Künste. Das Rohe und Grobe wird bearbeitet, um Geschmeidiges hervor zu bringen, Geselligkeit und Sinnenfreude. Ein nettes, liebenswürdiges Zusammenleben wird ebenso zum Genuss wie ein gutes, delikates Essen oder ein weiches Bett, wie Mode, Oper und Kino. Ein solcherart verfeinertes Vergnügen schenkt Glück, vielleicht kein dauerndes, aber eines, das immer wiederkehrt.

    Auf den ersten Blick scheint die deutsche Geschichte ganz anderes zu bieten. Überblickswerke der eigenen Vergangenheit zeigen gern die schwer gerüstete Germania mit Helm, Schild und Schwert; man sieht Könige und Fürsten in Kettenhemd und Uniform; die Deutschen erscheinen als Untertanen, nicht als Bürger; es herrschen Wahn und Geniekult.

    Gerade die Vertreter des Tragischen und Heroischen erfanden schon früh den Begriff der deutschen Misere, um für ihre autoritäre Schicksalsgläubigkeit freie Bahn zu haben. Die nationale Vergangenheit gipfelte anscheinend logisch in den Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Solche Bilder sind nicht falsch, aber einseitig und langsam ermüdend. Es ist an der Zeit, die deutsche Geschichte zu entzerren - nicht um die jüngeren Geschehnisse zu vergessen, sondern um neue Wege zu finden, die zur Seite des Leichten führen.


    Dem "langsam ermüdenden" Bild - und vor allem : Selbstbild - der Deutschen als einem Volk von geborenen Kriegern, tragischen Heroen und tumben Untertanen begegnet Erwin Seitz mit einer eigenen Geschichtsschreibung, in der die Vorfahren der heutigen Deutschen als durchaus lebenslustiger, genussfreudiger und auch sonst den Dingen des Lebens nicht gerade abgeneigter Menschenschlag erscheinen.

    Als Kronzeugen kann er, zum Beispiel, einen bedeutenden Reisenden zitieren, der im ausgehenden Mittelalter, das nie so finster war, wie es die Redensart will, nach Köln kam, damals eine der größten - und kurzweilig gar die größte Stadt Europas und mithin der Welt: den großen Dichter der frühen italienischen Renaissance, Francesco Petrarca. Er schrieb, sichtlich überrascht, im Jahre 1333:

    Erstaunlich für eine Stadt der Barbaren, welche Kultiviertheit, welch städtisches Gepräge, welcher Ernst der Männer, welch gepflegtes Äußere der Frauen (…) Denn das ganze Ufer bedeckte ein herrlicher und überaus großer Zug von Frauen. Ich wurde ganz still: Gute Götter, welch eine Schönheit der Gestalt, welch eine Vollkommenheit der Haltung!

    Über lange Seiten hält sich Erwin Seitz im sinnenfrohen und durchaus kultivierten Mittelalter auf. Er erzählt die Geschichte der Karolinger der Ottonen, der Staufer, bleibt lange in Augsburg, in Nürnberg, in Aachen, in Köln - und wird doch nie langweilig. Er kommt vom Hölzchen aufs Stöckchen: Gerade saß man noch, rund um das Jahr 1500, an einer Festtafel mit Kaiser Maximilian I., dem "letzten Ritter", und schon sind wir in der Gegenwart, in einem Bamberger Brauhaus, wo Rauchbier und Würste noch nach alt hergebrachten Rezepten produziert werden, oder in einem Münchener oder Berliner Edelrestaurant.

    Der Sinn solchen Treibens und Schreibens ist es, dem deutschen Leser ins Gedächtnis zu rufen, dass er eigentlich immer schon, zumindest mit der einen Seele in seiner Brust, an der europäischen Tradition des Leichten, des Städtischen und Eleganten teil hatte. Seitz' Buch ist dabei selbst die beste Illustration für Urbanität: Es liest sich wie eine Unterhaltung unter Freunden, wie Konversation - so nannte man das früher einmal - bei Tisch, bei einem anständigen Mahl. Und das Ganze ist wohl gespickt von würzigen Zitaten, wie bei einem erfindungsreichen Koch.

    Zum Beispiel diesem hier, wo Notker von Sankt-Gallen die losen Sitten am Hofe des Erzbischofs von Mainz zu Zeiten Karls des Großen beklagt:

    Nach Beendigung solcher Messen traten sie in seinen Saal ein, der mit herrlichen Teppichen und Vorhängen aller Art geschmückt war, wo ein köstliches Mahl in goldenen, silbernen oder mit edlen Steinen gezierten Gefäßen auch dem Unlustigen und Übersättigten Lust zum Genuss erwecken konnte. Er selbst aber saß hoch aufgebaut auf weichen Federn, in Überzügen von kostbarstem Seidenzeug, mit kaiserlichem Purpur angetan, (. . .) umgeben von Scharen der glänzendsten Ritter. (. . .) Nach dem wunderbar reichen Mahle, dergleichen auch bei Königen nicht häufig ist, wollten sich jene beurlauben, er aber, um seine Pracht und Herrlichkeit noch besser zu zeigen, ließ die kunstreichsten Sänger nebst allen musikalischen Instrumenten kommen, bei deren Stimmen und Klang die härtesten Herzen weich werden und die schnellen Fluten des Rheins verweilen mussten. Von Getränken aber gab es die verschiedensten Arten, mit allerhand Würzen und Zutaten bereitet; und die Becher, mit Kräutern und Blumen bekränzt, die den Glanz der Edelsteine und des Goldes auffingen und roten Schein dafür zurückstrahlten, blieben ungetrunken in ihrer Hand, da der Magen schon überfüllt war. Aber die Bäcker und Fleischer und Köche bereiteten unterdessen mit der ausgesuchtesten Kunst ihrem vollen Magen Leckerbissen aller Art, um sie wieder zum Genuss zu reizen - ein Mahl, wie es für den großen Karl nie bereitet worden war ...

    Erwin Seitz, der sich als wirklich profunder Kenner deutscher Geschichte und Kulturgeschichte erweist, führt immer wieder andere und neue Belege dafür an, dass die Deutschen oder diejenigen Völker, die erst noch dazu werden sollten, Schwaben, Bayern, Rheinländer, norddeutsche Hansestädter, von Anbeginn an - mal mit Verspätung, oftmals im Zeitgeist liegend - an der allgemeinen Verfeinerung der Lebensverhältnisse teil hatten. Sie stehen in einer gesamteuropäischen Entwicklung, die der große deutsche Soziologe Norbert Elias den "Prozess der Zivilisation" genannt hat.

    Dafür kann Seitz auch immer wieder Blicke von außen anführen. So zum Beispiel Ende des 16. Jahrhunderts den Reisebericht des Franzosen Michel de Montaigne, der damals über Basel und Konstanz nach Lindau kam, wo er im Gasthof "Krone" abstieg, bevor er weiterreiste in die Fuggerstadt Augsburg.

    Der Grandseigneur fand Vergnügen an Deutschland, hatte Freude an seiner Landschaft, an seinen Menschen wie an der guten Verpflegung. Freimütig hielt er seine Eindrücke im Tagebuch fest. Auffällig war für ihn zunächst das Phänomen des Sauerkrauts: "Überall werden Kohlköpfe gezogen, die man mit einem besonderen Instrument klein zerhackt und dann in großen Mengen in Zubern einsalzt: davon werden den ganzen Winter Kohlsuppen gekocht." Der Edelmann schien zufrieden damit gewesen zu sein. Nach dem sachlichen Hinweis auf den Kohl und die Kohlsuppen, setzte Montaigne bei seinem Aufenthalt in Lindau im Tagebuch noch einmal neu an und war über die deutsche Gastronomie und Kochkunst regelrecht entzückt. Die Deutschen waren keineswegs auf das Sauerkraut fixiert: "Denn was die Aufwartung bei Tisch betrifft, machen sie solchen Aufwand an Lebensmitteln und bringen in die Gerichte eine solche Abwechslung an Suppen, Soßen und Salaten, und das alles ist in den guten Gasthäusern mit solchem Wohlgeschmack zubereitet, dass kaum die Küche des französischen Adels damit verglichen werden kann, auch fände man in unseren Schlössern wenige derartig geschmückte Säle." Montaigne reiste weiter nach Augsburg und staunte über die Mengen an Artischocken, Kraut, Lattich, Spinat und Zichorien im Garten der Fugger. ( ... ) In der Küche der Fugger standen neben dem Kraut schon feine südländische Gemüse und Salate hoch im Kurs. Auch über sein Augsburger Gasthaus notierte Montaigne nur Löbliches: "Es wurden uns Pasteten, große und kleine, in irdenen Gefäßen von der Farbe und genau der Form der Pastete selbst, serviert. Es vergehen wenig Mahlzeiten, ohne dass einem nicht Zuckerwerk und Büchsen mit Eingemachtem angeboten würden. Das Brot ist das denkbar ausgezeichnetste, die Weine sind gut und wie überhaupt in Deutschland meist weiß."

    Seitz wird nicht müde, die babylonisch-städtische Seite der deutschen Kulturgeschichte ins rechte Licht zu rücken. Allenthalben spürt er dem bürgerlich-zivilen Geist hinterher, der Vision eines homerischen "Phäakentums", das in den deutschen Städten, zumal in den freien, regen Handel treibenden, deutschen Städten seit dem Mittelalter nachzuweisen wäre. Die urbane, kaufmännische, an Frieden, Ausgleich und Genuss orientierte Zivilgesellschaft ist für Seitz der Gegenentwurf zum heroisch-aristokratischen Ideal der Askese, des Soldatentums. Hier der listenreiche Odysseus, der den Göttern und den Elementen trotzt, es sich zwischendurch immer wieder einmal, mit Hegel, "sauwohl" ergehen lässt, dort Achill und der blutige Kampf um Troja. Hier Athen als Inbegriff einer verfeinerten Polis, dort Sparta und seine durchtrainierten Krieger.

    Oder kurz: Hier die Zivilisierten, dort die Barbaren. Es sind dies kulturanthropologische Konstanten, alternative Gesellschaftsmodelle, hinter denen sich die Wahl zwischen Demokratie und Autoritarismus stellt. In der deutschen Geschichte, zumal in der jüngeren deutschen Geschichte, fiel die Wahl häufig zugunsten des Letzteren. Aber auch im neu gegründeten, nicht gerade republikanisch gesinnten Bismarckstaat, im wilhelminischen Kaiserreich von 1870, entdeckt Seitz noch Enklaven für eine bessere Welt. So zum Beispiel in Stuttgart, wohin es 1874 den französischen Reisenden Victor Tissot verschlagen hatte, dem man a priori keine übertriebene Deutschlandliebe unterstellen kann:

    Die Hauptstadt Württembergs vermittelt einen frohen und glücklichen Eindruck. Umgeben von Hügeln, geschmückt mit Weinbergen, einem herrlichen grünen Horizont, Parkanlagen mit mehr Blumen als Soldaten und Kindermädchen, schöne Gebäude, viele ausgezeichnete Schulen, breite Straßen voll Luft und Sonne, ein altes Schloss, das noch in der Vergangenheit dahinträumt, Häuser aus der Zeit der Gotik (. . .). Das ist Stuttgart, und das ist es, was dem Fremden den Aufenthalt in Stuttgart so angenehm macht. (. . .) Der Traum eines jeden Württembergers ist nicht, Korporal, sondern Gastwirt zu werden ...

    Lieber Gastwirt als Korporal, lieber Koch als Soldat, lieber Ernährer als Zerstörer. Indes, das Stuttgarter Idyll mitten im martialisch gestimmten Ambiente triumphierenden Preußentums kann auch Erwin Seitz nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Deutschen nicht den direkten Weg zur Verfeinerung gingen, dass sie, wie der Historiker Heinrich August Winkler formuliert, einen " langen Weg nach Westen " gingen. Woran also liegt es, dass das Bild der Deutschen - und vor allem ihr Selbstbild - trotz allem stärker vom Schweren als vom Leichten geprägt ist, stärker von der Askese als vom Genuss?

    Den Schuldigen hat Seitz sehr schnell ausgemacht : Es ist ein kleiner Mönch, der sich im Jahre 1517 erdreistet hatte, den römischen Papst herauszufordern, welch Letzterer, so der eifrige Glaubensmann, die Kirche in der Gefangenschaft der Hure Babylon hielt. Doktor Martin Luther predigte die Freiheit des Christenmenschen - und katapultierte doch die Deutschen, zumindest seine Anhänger unter ihnen, um Äonen zurück und aus dem europäischen Zivilisationsprozess heraus. Ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, da dieser mit Humanismus und Renaissance in eine entscheidende Phase trat. Das klingt etwas gewagt, hat aber auch, so Seitz, der seinen Luther genau gelesen hat, einiges für sich. Denn wie sprach doch der streitbare Theologe ?

    Denn so wie nun der Missbrauch mit Saufen, Spielen, Müßiggang und allerlei Sünde im Gange ist, erzürnen wir Gott mehr an den heiligen Tagen denn an den anderen. (. . .) Und zuvor sollte man die Kirchweihe ganz austilgen, sintemal sie nichts anderes sind denn rechte Tavernen, Jahrmärkte und Spielhöfe geworden ( ... ) [Es] wäre hochnot ein allgemeines Gebot und Bewilligung deutscher Nation wider den überschwänglichen Überfluss und Kosten der Kleidung, dadurch soviel Adel und reiches Volk verarmet. Hat doch Gott uns wie anderen Landen genug gegeben Wolle, Haar, Flachs und alles, was zu ziemlicher, ehrlicher Kleidung einem jeglichen Stand redlich dienet ( ... ) Desselbengleichen wäre auch not, zu verringern Spezerei, was auch der grossen Schiffe eines ist, darinnen das Geld aus deutschen Landen geführt wird. Aber das grösste Unglück deutscher Nation ist gewisslich der Zinskauf. Wenn der nicht wäre, müsste mancher seine Seide, Sammet, Goldschmuck, Spezerei und allerlei Prangen wohl ungekauft lassen. Er besteht nicht über hundert Jahr und hat schon fast alle Fürsten, Stifte, Städte, Adel und Erben in Armut, Jammer und Verderben gebracht; wird er noch hundert Jahr bestehen, so wäre es nicht möglich, dass Deutschland einen Pfennig behielte, wir müssten uns gewisslich untereinander fressen; der Teufel hat ihn erdacht und der Papst wehe getan aller Welt mit seiner Bestätigung. (. . .)

    Und das kommentiert Seitz folgendermaßen:

    Luther prägte die Deutschen wie kaum ein anderer. Er schuf ein deutsches Hochgefühl, indem er mit der Kritik an Rom zugleich seine Landsleute von den Romanen abgrenzte. Er redete sie unmittelbar an: Hallo, ich sage euch, wer ihr seid und wie ihr sein sollt! Nämlich anders als diese Romanen, Italiener und Franzosen! Anders als diese amüsierfreudigen, verweichlichten, antiheroischen Urbanisten! Luther hielt das Gros der Deutschen für unfähig, das Leben aus eigener Einsicht heraus oder mit Hilfe von gegenseitiger Beratung zu meistern. Für ihn ließen sich die Probleme des Zusammenlebens immer noch am besten durch die Prinzipien von Obrigkeit und Gehorsam lösen. Da die traditionelle Kirche in seinen Augen moralisch viel zu lasch war, suchte er jetzt den Schulterschluss mit den weltlichen Fürsten, um ihnen Ratschläge zu geben, wie sie die Bürger und Bauern gängeln sollten - was diese nun wiederum selbst artig lasen, weil Luther in dieser Schrift immerhin auch gegen den Papst und die Prälaten vom Leder zog. Je mehr sich seine kämpferische Hauptschrift in die Länge dehnte, desto mehr wurde sie zu einer Orgie von Geboten und Verboten. Je entschiedener er sich gab, desto erfrischter fühlte er sich. Der Papstschelte folgten Humanismus- und Luxuskritik.

    Martin Luther, das wäre der Einbruch des politisch-moralischen Integrismus in die deutsche Geschichte, den sich später noch die Preußenkönige zunutze machen sollten. Die Kunst des freien gesellschaftlichen Arrangements weicht unterwürfiger, genussfeindlicher Gottesfurcht, weicht einem religiös begründeten Autoritarismus. Das alles klingt, mit Blick auf die Ereignisse am südlichen Saum des Mittelmeers heute - und auf Teile der nordamerikanischen Öffentlichkeit -, seltsam aktuell. Es ist fraglich, ob auch dort vernommen wird, was Seitz, ganz im Stile des Hedonisten Willy Brandt, seinen inzwischen säkularisierten Landsleuten zuruft: Wir wollen mehr Genuss wagen!

    Erwin Seitz: "Die Verfeinerung der Deutschen. Eine andere Kulturgeschichte".
    Insel-Verlag, Berlin, 823 Seiten, 28 Euro