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Mehr Herz für Flüchtlinge

Der Bundespräsident setzt Impulse für notwendige gesellschaftliche Diskussionen lieber an der Basis statt von der Rednertribüne aus. Mit seinem Besuch in einem brandenburgischen Asylbewerberheim wollte sich Joachim Gauck vor Ort ein Bild von der Situation der Flüchtlinge machen, aber auch Vorurteile der deutschen Bevölkerung abbauen.

Von Axel Flemming | 13.12.2012
    Das Wohnheim am Weitzgrunder Weg gilt als Vorzeigeobjekt. Es liegt im Landkreis Potsdam-Mittelmark südwestlich von Berlin und ist im Stil einer skandinavischen Ferienhaussiedlung errichtet. Zu DDR-Zeiten war hier die Bereitschaftspolizei untergebracht. Noch nie war ein Bundespräsident zu Besuch. Joachim Gauck lässt sich ein paar Unterkünfte zeigen, spricht mit den Bewohnern. Er wählt den Zeitpunkt bewusst. Er will in der Asyldebatte ein Zeichen setzen und eine Botschaft transportiert wissen:

    "An die Menschen, die unter unsäglichen Bedingungen in ihrer Heimat lebten geflüchtet sind und hier Asyl suchen. Dass wir sie wahrnehmen, dass sie uns nicht gleichgültig sind."

    Der Präsident zeigt Herz, die Kameras klicken, als er den kleinen Jonathan auf den Arm nimmt. Die meisten Bewohner scheinen mehr von der Pressemeute beeindruckt, als von der Tatsache, dass hier der oberste Repräsentant des Staates auftaucht. Das Heim ist derzeit voll belegt: 135 Bewohner, davon 13 Kinder. Die meisten kommen aus dem Iran, Irak, Afghanistan, Syrien, Kenia oder Kamerun. Menschen mit 26 verschiedenen Nationalitäten sind hier untergebracht.

    Der 23-jährige Moli Karo kommt aus Syrien und hat ein bisschen Deutsch gelernt:

    "Also, ich will hier bleiben, meine Familie alles Syrien, mein Bruder auch herkommen, alles kaputt. Jeden Tag 4-500 Leute tot."

    Ein 37-jähriger, der aus dem Irak geflüchtet ist, war 8 Jahre lang hier. Seit drei Jahren hat er die unbefristete Aufenthaltserlaubnis, lebt jetzt in einer eigenen Wohnung in der Stadt:

    "Zuviel Leute hier von anderem Land. Irak, Afghanistan, Syrien, Afrika auch. Aber OK, zufrieden; es ist gut. Aber schwer von Sprache manchmal oder von Aufenthaltserlaubnis oder Wohnung suchen."

    Aber nicht alle Räume sind so schön, wie die, die der Bundespräsident zu Gesicht bekommt. Ein 35-jähriger Inder, der seit 10 Jahren hier lebt, beklagt sich:

    "Und jetzt gucken sie meine Zimmer, wie aussieht in meine Zimmer: das ganz dreckig aussieht. Alles Wand schwarz!"

    Gauck ist hergekommen, um die Situation der Flüchtlinge kennen zu lernen. Aber auch um Vorurteile der deutschen Bevölkerung abzubauen.

    "Und es ist auch eine Botschaft an die Menschen im Lande draußen, die oft das Gefühl haben, die Asylbewerber kommen und wollen es sich hier gut gehen lassen. Das sind die allerwenigsten, die meisten wollen arbeiten. Die würden sich freuen, wenn sie arbeiten können und für sich selber sorgen. Und da möchte ich auch dies Signal geben, dass wir nicht mit engem Herzen, sondern mit weitem Herzen uns der Probleme derer annehmen, die Überlebenschancen suchen."

    Vier Mitarbeiter betreuen die Flüchtlinge, die darauf warten, dass die deutschen Behörden über Ihre Anträge auf Asyl entscheiden. Sie helfen bei Anmeldung und Arztbesuchen, unterstützen Eltern bei Kita- und Schulbesuch. Deutschland debattiert seit Monaten über den Umgang mit Asylbewerbern. Viele klagen über einen neuen Strom an Flüchtlingen. Potsdam-Mittelmarks Landrat Wolfgang Blasig sucht mit seiner Kreisverwaltung für fast 100 Asylbewerber noch Unterkünfte. Auf der anderen Seite relativiert der SPD-Politiker aber den Eindruck, das Land werde überschwemmt:

    "Nein, man darf das um Gottes Willen nicht dramatisieren. Im Landkreis Potsdam Mittelmark leben 205.000 Menschen. Und wir reden jetzt im Moment über 260 – ich bitte Sie!"

    Brandenburg hat die Residenzpflicht gelockert, das ist der inoffizielle Ausdruck für eine Praxis, mit der die Behörden vielen Flüchtlingen in Deutschland die Freizügigkeit beschränken. Fahrten nach Berlin oder in andere Landkreise müssen nicht mehr jedes Mal vorher beantragt werden. Das bedeutet:

    "Dass die Flüchtlinge sich freier bewegen, sich natürlich, klar, Richtung Berlin bewegen. Es ist zwar sehr schön hier, aber etwas abgeschieden, das kann man doch verstehen. Ich halte sehr viel davon, dies zu lockern. Ich halte sehr viel davon, wenn man sich überlegt, wie lange die Menschen hier sind, durchschnittlich sechs Jahre, dass man auch die Möglichkeit gibt, dass sie arbeiten können."

    "Aufhebung der Residenzpflicht", das ist das zentrale Anliegen der streikenden Flüchtlinge in Berlin. Zwei sind extra nach Bad Belzig gefahren und protestieren in Sträflingskleidung vor dem Tor. Es sieht aus, als ob die Demonstranten nun Unterstützung vom Bundespräsidenten bekommen:

    "Müssen wir dauernd am Ort wohnen? Da finde ich die Brandenburger schon ganz gut, die diese Residenzpflicht gelockert haben und den Menschen die Möglichkeit sich zu bewegen."

    Der Präsident zieht sich nach seinem Rundgang durch das Heim mit einigen Bewohnern zurück, um über deren persönliche Lage zu sprechen. Gauck nimmt sich dafür über eine Stunde Zeit. Danach wirkt er sehr nachdenklich und sagt, die Begegnung war intensiver, als er sich es vorgestellt hatte, trotz aller Vorbereitung:

    "Nur es ist ja noch mal ein Unterschied, ob einem ein Problem begegnet oder ein Mensch. Ja, das hat mich doch sehr bewegt. Und ich denke manchmal so in diesen Tagen, wo wir auf Weihnachten zugehen: ich werde am Weihnachtsfest natürlich in der Kirche sein und von Maria und Josef hören. Und das sind Menschen gewesen, die mit dem Kind, das geboren werden sollte, auf eine Herberge angewiesen waren, auf Menschen, die menschenfreundlich waren und Türen aufgemacht haben, statt sie zu verschließen."