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Mehr Kita-Plätze auf Kosten der Betreuungsqualität

Kleinere Räume, größere Gruppen: Ergebnisse des Krippengipfels, den Nordrhein-Westfalens Familienministerin Ute Schäfer gestern abgehalten hat, um die aktuelle Betreuungsquote dem Bedarf an Kita-Plätzen anzupassen. Unter dem Druck des Rechtsanspruchs der Eltern dürften jedoch keine Standards gesenkt werden, kritisiert Stefan Sell, Sozialwissenschaftler an der Hochschule Koblenz.

Stefan Sell im Gespräch mit Manfred Götzke | 31.08.2012
    Manfred Götzke: Nordrhein-Westfalens Familienministerin hat ein großes Problem, das sich an zwei Prozentzahlen am besten veranschaulichen lässt: 15,9 Prozent und 37 Prozent. Die erste Zahl ist die aktuelle Kleinkinderbetreuungsquote, die zweite Zahl ist der geschätzte Bedarf an Kita-Plätzen. Für 15 Prozent der Kinder gibt es heute also einen Krippenplatz, aber mindestens 37 Prozent der Eltern wollen und würden gern ihr Kind betreuen lassen. Das alles ist deshalb ein Problem, weil Eltern, die keinen Kita-Platz bekommen, ab Mitte 2013 einen einklagen können.

    Wie aber lassen sich Kita-Plätze in nicht mal einem Jahr mehr als verdoppeln? Darüber hat NRW-Familienministerin Ute Schäfer mit Kommunen und Trägern gestern beim Krippengipfel diskutiert, ja, und sie haben eine sehr kreative Lösung gefunden: Standards senken. Größere Kindergruppen soll es geben mit bis zu 15 Kindern, außerdem kann die Außenfläche von Kitas von 30 Quadratmetern auf 10 Quadratmeter pro Kind sinken. Über diese Ideen möchte ich jetzt mit Stefan Sell sprechen, er ist Professor für Sozialwissenschaften an der Hochschule Koblenz. Hallo, Herr Sell!

    Stefan Sell: Hallo, Herr Götzke!

    Götzke: Herr Sell, würden Sie Ihr Kleinkind in eine 15er-Betreuungsgruppe geben?

    Sell: Also wir müssen bei Kleinkind sehen, in welchem Altersbereich die sich bewegen, also von dem vollendeten ersten Lebensjahr geht das los. Und wenn ich so ein kleines Kind habe, dann würde ich das tendenziell eher nicht machen, nein.

    Götzke: Warum nicht?

    Sell: Weil wir aus der frühkindlichen Forschung wissen, dass gerade bei den kleinen Kindern im Alter unter drei Jahren die Gruppengröße ein ganz wichtiges Strukturmerkmal für Qualität ist. Wir sehen ja, der Unterschied zum Beispiel zu einem fünf- oder sechsjährigen Kind liegt ja darin, dass die Fünf- und Sechsjährigen sehr wohl schon zum Beispiel wechselnde Erzieherinnen während des Tages gut verkraften können. Bei den Ein- oder Zweijährigen, die ja noch in einer ganz anderen Entwicklungsphase sind, die brauchen eine Bezugserzieherin, die brauchen ein sehr vertrautes Umfeld und die dürfen auch nicht überlastet werden von einer zu großen Gruppengröße.

    Götzke: Nun hat die Familienministerin Ute Schäfer gestern versichert, am geltenden Personalschlüssel von 3,6 Kindern pro Erzieher werde nicht gerüttelt, da liegt dann Ihrer Meinung nach das Problem, dass mehrere Erzieher in einer Gruppe unterwegs sind?

    Sell: Ja, also einmal die … für die ganz Kleinen wohlgemerkt sind überschaubare Gruppen, auch ein Nestcharakter ist sehr, sehr wichtig. Ich will ein Beispiel nehmen: Wenn Sie nach Frankreich schauen zum Beispiel, wo wir ja eine ganz andere Situation haben, dort werden aber die ganz kleinen Kinder im Alter von eins oder zwei Jahren im Regelfall in der Tagespflege betreut von Tagesmüttern, gar nicht mal so oft in Krippen, um eben diesen Charakter kleinerer Einheiten aufrecht zu erhalten.

    Aber zum Personalschlüssel, da muss ich mal was sagen, denn das ist wieder so ein statistischer Trick. Die Gruppengröße war bisher zehn Kinder unter drei Jahre in einer Gruppe, und dafür gab es dann zwei Erzieherinnen. Das soll jetzt auf 15 Kinder erhöht werden, und dann sagt die Ministerin, es ist alles kein Problem, weil die kriegen ja auch mehr Personal. Dann haben wir also drei Erzieherinnen in dieser Gruppe. Was man jetzt aber wissen muss, ist, das ist: Für die Betreuungsqualität ist wichtig der Fachkraft-Kind-Schlüssel, also ist die Fachkraft wirklich da, wenn das Kind da ist?

    Das heißt, der Personalschlüssel muss noch besser sein als dieser Fachkraft-Kind-Schlüssel, weil ja die Erzieherinnen auch mal krank sind, auch mal Urlaub haben, eine Weiterbildung machen, ausfallen. Und das ist in den gängigen Personalschlüsseln heute schon – das kritisieren wir seit Jahren – nicht oder ganz rudimentär berücksichtigt, und deswegen sind die Personalschlüssel nach den Standards der Fachdiskussion heute schon um ein Drittel zu schlecht.

    Götzke: Und das wird sich ja nicht verbessern. Die Frage ist ja: Woher sollen all diese Fachkräfte her, um einen guten Fachkraft-Kind-Schlüssel, wie Sie sagen, zu bekommen?

    Sell: Ja, das ist ja das nächste Problem. Stellen wir uns einfach mal vor, wir würden jetzt politisch sagen, super, wir machen das jetzt, Ausbau, stecken alles Geld da rein – Nordrhein-Westfalen lügt sich an einer Stelle wirklich ganz dicke in die Tasche, sie sagen nämlich: Wir haben heute 117.000 Plätze für Kinder unter drei, und wir brauchen noch fast 27.000 Plätze, das sind immerhin über 20 Prozent von allen, die heute da sind, um im nächsten Jahr den Rechtsanspruch zu erfüllen. Ja, mit welcher Quote? Mit 32 Prozent in Nordrhein-Westfalen.

    Das Problem ist nur: Der Rechtsanspruch, der ist nicht an die 32 Prozent geknüpft, sondern theoretisch könnten 100 Prozent der Eltern sagen: Ich möchte einen Betreuungsplatz. Und die Städte Bonn, Köln, Düsseldorf, alle melden ja schon: Sie gehen von Bedarfen aus, die über 60 Prozent liegen. Und dafür gibt es überhaupt nicht ausreichendes Personal, mal von den Räumlichkeiten abgesehen, bereits unter diesen sehr geschönten Bedingungen fehlen in Nordrhein-Westfalen bis zum nächsten August in wenigen Monaten 3400 Erzieherinnen in den Kitas und 6800 Tagesmütter, die ja in dieser Debatte immer gerne vergessen werden.

    Götzke: Das heißt, um Sie mal kurz zu unterbrechen: Es wird auf jeden Fall eine Klagewelle geben?

    Sell: Es wird mit Sicherheit eine Klagewelle geben. Dann wird es … unter der Voraussetzung, dass die politisch Verantwortlichen bis zum 1. August des kommenden Jahres nicht die Reißleine ziehen und diesen individuellen Rechtsanspruch beispielsweise zeitlich befristet aussetzen.

    Götzke: Das ist Ihrer Meinung nach die einzige Möglichkeit, das Gesetz noch mal zu ändern?

    Sell: Herr Götzke, ich muss Ihnen an dieser Stelle wirklich verärgert sagen als jemand, der seit Jahren auf diese Missstände hinweist, muss man jetzt sozusagen das Geschäft, was die politisch Verantwortlichen zu besorgen haben, erledigen, nämlich darauf hinweisen, dass – so wichtig ein Rechtsanspruch wäre: Wenn die Qualität der Kinderbetreuung gerade für die Kleinsten der Kinder das oberste Ziel sein sollte, dann dürfen wir nicht sozusagen auf diese schiefe Ebene geraten, dass wir unter dem Druck irgendwelche Plätze, hauptsächlich Plätze zu schaffen, jetzt die Standards fluten, die Betreuungsbedingungen verschlechtern und in der Not der Situation zu sogenannten Übergangslösungen greifen, die dann Jahre bestehen bleiben. Das können wir diesen kleinen Kindern, die ja keine Versuchskaninchen sind, nicht zumuten.

    Und deswegen plädiere ich tatsächlich dafür, dass man eine zeitweise Aussetzung des Rechtsanspruches in Erwägung zieht, allerdings nur für den Preis, dass vereinbart wird ein verbindlicher Ausbauplan, der sich an den tatsächlichen Elternbedarfen orientiert, denn diese 32 Prozent in NRW sind schlichtweg eine schon seit Jahren überholte Vorstellung der Bedarfe der Eltern, die aber kaum systematisch wirklich bisher erfasst worden sind.

    Götzke: Nordrhein-Westfalens Familienministerin Ute Schäfer hat gestern einen Krippengipfel abgehalten, von den Ergebnissen ist Stefan Sell, Sozialwissenschaftler an der Hochschule Koblenz, nicht unbedingt überzeugt. Vielen Dank für das Interview!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.