Donnerstag, 25. April 2024

Archiv

Mehrdimensionale Bildung integrieren
"Zu starke Fokussierung auf bloßes Wissen"

Hochschulbildung müsse auch Kompetenzen im interkulturellen Bereich, in der Persönlichkeitsbildung oder auch in der Medienkompetenz stärken, sagte Rudolf Tippelt, Mitglied im Aktionsrat Bildung. Eine mehrdimensionale Bildung sei wichtiger, als "bloße Wissensanhäufung". Tippelt räumte aber ein, dass dieses Wissen schwer zu messen sei und es bisher an geeigneten Instrumenten fehle.

Rudolf Tippelt im Gespräch mit Benedikt Schulz | 11.05.2015
    Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
    Schüler beim Pisa-Test (Bild: dpa) (dpa)
    Benedikt Schulz: Bildung ist mehr als bloßes Fachwissen. Das ist sicherlich keine ganz neue Erkenntnis, aber es ist eine Binsenweisheit, die in Zeiten von G8 und verkürzten Studiengängen ja gelegentlich vergessen wird. So etwas wie Persönlichkeitsentwicklung in Kitas, Schulen oder Hochschulen findet eher als Rhetorik statt denn als praktische Umsetzung. Aber das muss anders werden, findet der Aktionsrat Bildung in seinem aktuellen Gutachten und fordert mehrdimensionale Bildung, also nicht nur Fachkompetenzen, sondern zum Beispiel auch musische, politische oder interkulturelle Kompetenzen – und eben Persönlichkeitsentwicklung. Rudolf Tippelt ist Erziehungswissenschaftler und Mitglied im Aktionsrat Bildung und außerdem am Telefon. Ich grüße Sie!
    Rudolf Tippelt: Ja, guten Tag, ich freu mich!
    Schulz: Also Sie wollen, dass in der Schule mehrdimensionale Bildung stärker oder überhaupt erst mal stattfindet, und Sie fordern dafür, dass auch angemessen Zeit bereitgestellt wird. Woher wollen Sie denn angesichts von G8 und Bachelor-Studiengängen diese Zeit überhaupt hernehmen?
    Tippelt: In der Schule – G8, G9 – ist für uns wichtig zunächst mal, dass wir diese mehrdimensionale Bildung nicht außerhalb der Fächer nur veranschlagen, sondern auch im Fachunterricht selbst muss Interesse, muss Medienkompetenz, muss interkulturelle Kompetenz und Lernkompetenz auch zum Tragen kommen. Es ist nicht nur Extraunterricht, vielleicht allerdings schon im musischen und ästhetischen Bereich, musische, ästhetische Bildung braucht noch mal eigene Bereiche. Wir setzen da unter anderem auch auf die Ganztagsbildung, indem dann in einer rückmissierten Form mehr Zeit zur Verfügung steht.
    Schulz: Aber dann gehen wir doch mal ans Beispiel Studium: Dort gibt es die grundständigen Bachelor-Studiengänge, sechs Semester, sehr vollgepackt, viele gestresste Studierende, und die sollen dann zum Beispiel in etwas wie allgemeinen Studien noch zusätzlich ihre Persönlichkeit formen. Kann das funktionieren?
    Tippelt: Es muss funktionieren. Wenn das nicht funktioniert, dann gehen wir am Sinn auch von Hochschulbildung vorbei. Selbstverständlich ist Fachlichkeit ein ganz hohes Ziel, und es bleibt auch in unserem Gutachten ein hohes Ziel, aber die Persönlichkeitsentwicklung, die Entwicklung von Charakter ist historisch natürlich immer schon ein Ziel von Hochschule gewesen, das muss es auch bleiben. In der Tat ist manchmal diese zu starke Fokussierung auf das bloße Wissen, auf die Wissensanhäufung nicht günstig, aber auch hier glaube ich, dass in den Seminaren, auch in den Vorlesungen verschiedene Aspekte mehrdimensionaler Bildung integriert werden können in den fachlichen Unterricht, zum Beispiel die Lernkompetenz stärken, das Interesse stärken, die Medienkompetenz stärken. Allerdings, wir sind auch durchaus in der Diskussion, ob ein sechssemestriger Bachelor überhaupt adäquat ist. Das stimmt, es gibt Ideen, wo immer das möglich ist, vielleicht den Bachelor auch auf acht Semester zu strecken, wie das international übrigens in verschiedenen Ländern üblich ist.
    PISA wird Stellenwert behalten
    Schulz: Sie wissen jetzt darauf hin in Ihrem Gutachten, dass Vergleichsstudien wie PISA vor allem fachliches Wissen abgefragt haben beziehungsweise das fachliche Wissen vor allem im Fokus der Öffentlichkeit stand, jetzt soll auch moralische Urteilsfähigkeit vergleichbar gemacht werden. Ist das dann eine Art Moral-PISA, von dem wir hier sprechen?
    Tippelt: Also zunächst, PISA ist für uns ganz wichtig, ähnlich wie PIAAC. Diese Kompetenzerfassung, diese Kompetenzmessung auch im internationalen Vergleich hat ja ihren Stellenwert und wird diesen Stellenwert auch behalten. Wenn man PISA genauer ansieht, wird dort auch Interesse zum Beispiel erfasst, es wird Problemlösekompetenz erfasst, es werden Selbstkonzepte, also das Selbstbewusstsein von Schülern mit erfasst, bezogen auch auf die verschiedenen Domänen. Das geht immer schon auch über das rein Fachliche hinaus. Wir sind aber auch der Meinung, dass tatsächlich auch andere Fächer eine hohe Bedeutung und auch in der Diskussion stärker auch gewichtet werden sollten, insbesondere musische, historische und ästhetische Aspekte von Bildung.
    Schulz: Wollen Sie denn moralische Urteilsfähigkeit und soziale Orientierung heißt es ja auch – wie wollen wir das denn testen?
    Tippelt: Ja, testen, das ist sehr schwierig, es fehlen definitiv Instrumente nach wie vor. Wir haben uns konzentriert auf die Testung von Domänen und auf die Leistung, auf die Output-Messung. Zum Teil geht es natürlich auch darum, die Prozesse der Entwicklung von solchen Leistungen jetzt stärker auch zu fokussieren. Das kann man, glaube ich, stärker machen, also in der Form von Unterrichtsforschung. Und dann ist es wichtig vielleicht, zu einzelnen Aspekten tatsächlich neue – auch wenn man es testen will – Instrumente zu entwickeln.
    Aufwertung der frühkindlichen Erziehung dringend notwendig
    Schulz: Ich möchte noch auf etwas anderes zu sprechen kommen: Die unbefristeten Kita-Streiks haben heute begonnen in Nordrhein-Westfalen und Bayern, und Sie geben ja auch Empfehlungen ab für den frühkindlichen Bereich und fordern auch dort mehr Persönlichkeitsentwicklung, und dafür sollen die Erzieherinnen und Erzieher geschult werden. Geht das? Können wir von unserem Kita-Personal immer mehr verlangen, ohne dass unsere Gesellschaft sie deutlich besser bezahlt?
    Tippelt: Sie sprechen etwas sehr Wichtiges an. Der frühkindliche Bereich ist viele Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte, nicht hinreichend gewürdigt worden, aus meiner Sicht. Und in der Tat neben Erziehung und Betreuung ist ein neuer Anspruch, Bildung zu vermitteln, auch die Übergänge in die Primarstufe der Schule besser vorzubereiten. Bildung ist ein neuer Anspruch, und die Erzieherinnen müssen diesem Anspruch auch gerecht werden. Insofern ist das eine Aufwertung dieses Berufsbereichs und eine höhere Bezahlung aus meiner Sicht – lassen Sie mich das ruhig subjektiv sagen – ist dringend erforderlich, um die Anerkennung dieses so wichtigen Bereichs – wir wissen, dass er auch eine vorbereitende Aufgabe hat für alle weiteren Lernprozesse –, eine Aufwertung dieses Bereichs ist notwendig.
    Schulz: Rudolf Tippelt, Erziehungswissenschaftler an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und Mitglied im Aktionsrat Bildung. Ganz herzlichen Dank!
    Tippelt: Herzlichen Dank auch!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.