Freitag, 29. März 2024

Archiv

Sure 99 Verse 1-5
Das Erdbeben am Ende aller Tage

Der Koran berichtet von einem Erdbeben. Man kann das wörtlich verstehen. Man kann das aber auch im übertragenen Sinne verstehen und so in die Tiefen der philosophischen Welten des Korans vordringen.

Von Prof. Dr. Shigeru Kamada, Universität Tokio, Japan | 17.08.2018
    "Wenn die Erde von ihrem Beben erschüttert wird und ihre Lasten von sich gibt und der Mensch sagt: ‚Was ist mit ihr?‘, an jenem Tag wird sie aussagen, was sie zu berichten hat, da ihr Herr ihr eingegeben hat. An jenem Tag werden die Menschen getrennt hervorkommen, um ihre Werke zu sehen. Wenn dann einer das Gewicht eines Stäubchens an Gutem getan hat, wird er es zu sehen bekommen. Und wenn einer das Gewicht eines Stäubchens an Bösem getan hat, wird er es zu sehen bekommen."
    Diese Sure 99 ist sehr kurz. Sie hat insgesamt nur acht Verse. Sie beschreiben das Erdbeben, das sich am Ende aller Tage als Katastrophe ereignen wird. Dabei werden alle Menschen wieder zum Leben erweckt. Gott beurteilt ihr Verhalten während des Erdenlebens. Entsprechend erhalten sie Belohnung oder Bestrafung. Die Botschaft der Sure ist einfach und klar.
    Die Sendereihe Koran erklärt als Multimediapräsentation
    Mullâ Sadrâ, ein schiitischer Mystiker und Philosoph im 17. Jahrhundert, lebte im Iran unter der Herrscherdynastie der Safawiden. Er entwickelte ein einzigartiges philosophisches System. Dabei wurde er vom großen Ibn Arabî aus dem 13. Jahrhundert und dessen mystischer Erkenntnis beeinflusst, dass alle Dinge und Ereignisse in dieser Welt manifestierte Formen der sogenannten Absoluten Existenz sind.
    Mullâ Sadrâ hat viele Koranabschnitte kommentiert und ist dabei auf die Sure über das Erdbeben eingegangen. Er geht davon aus, dass der Koran eine mehrschichtige Sinnstruktur hat. Innerhalb dieser Sinnstruktur weist der Koran verschiedene Bedeutungen auf verschiedenen Interpretationsebenen auf.
    Porträt von Shigeru Kamada
    Shigeru Kamada ist einer der bedeutendsten Islam-Experten in Japan. (priv.)
    Die wörtliche Bedeutung des Textes lässt Mullâ Sadrâ unangetastet. Er überträgt die Szenerie in einen anderen Kontext. Dann interpretiert er sie neu. Somit geht er davon aus, dass sich die Ereignisse, die in Sure 99 beschrieben werden, auf einer höheren Ebene der Seinsart zutragen und dass sie jedes einzelne Bestehende in dieser Welt allgemeingültig umfassen. Anders gesagt, dieses Erbeben, also eine Art Bewegung, lässt sich in jeder einzelnen Sache oder jedem Ereignis zu jeder Zeit finden. Das Beben ist mit der inneren Natur der Welt und jedem Gegenstand darin fest verwurzelt.
    Die Verse sagen Mullâ Sadrâ: Alles Existierende ist stets in Bewegung und verändert sich in Richtung Perfektion. Er erahnt diese unaufhörliche dynamische Verwandlung intuitiv. Sie gründet auf der Wirklichkeit des Daseins. Diese Wirklichkeit hört niemals auf, sich in verschiedenen Stufen von Kraft und Schwäche, Vollkommenheit und Unvollkommenheit zu erkennen zu geben. Intuitiv begreift er im Erdbeben des Korantexts die Wirklichkeit der Welt. Die Welt scheint stabil zu sein, im Fluss der Existenz aber wandelt sie sich in jedem Augenblick selbst.
    Mullâ Sadrâ macht die wörtliche Bedeutung zur Grundlage fürs weitere Eindringen in den Text. Bei seiner Art zu interpretieren, existieren die buchstabengetreue und die innere Auslegung nebeneinander, ohne sich gegenseitig zu beeinträchtigen. Damit könnte die starre Dichotomie durchbrochen werden, die üblicherweise diese beiden Wege der Interpretation kennzeichnet.
    Die Herangehensweise von Mullâ Sadrâ an den heiligen Text sollte es wert sein, beachtet zu werden - gerade angesichts der gegenwärtigen Weltlage, in der wir überall auf ein zügelloses, egozentrisches Sektierertum stoßen.