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Mein ABC. Von Adam und Eva bis Zentrum und Peripherie

Wer so alt und so berühmt ist wie Czeslaw Milosz, der polnisch-litauische Nobelpreisträger, dem mag das eigene, neunzigjährige Leben schon einmal historisch vorkommen. "Meine Biographie ist die merkwürdigste, die mir je begegnet ist", heißt es einmal in seinem Erinnerungsbuch "Mein ABC", und das ist selbst für einen Patriarchen ein merkwürdiger Satz. Denn üblicherweise wird man vom eigenen Leben kaum behaupten, dass es einem "begegnet" sei. Aber nicht nur dieser Satz aus Miloszs spätem "ABC" verrät eine große Distanz zu den irdischen Dingen, in die sich bisweilen ein Quentchen Hochmut mischt. Dieser Mann, so scheint es, ist mit sich selbst im Reinen. Einmal entwirft Milosz ein fiktives Selbstporträt aus den Hasstiraden seiner Feinde, und siehe da, es liest sich wie pure Schmeichelei. "Ein Glückspilz", heißt es da. Und weiter: "Einer, dem alles gelingt. Unglaublich clever. Träge. Liebt Geld. Keine Spur Patriot. Der Heimat gegenüber gleichgültig, er hat sie gegen einen Koffer eingetauscht. Ein Schöngeist. Ein Ästhet, dem die Kunst wichtig ist - und nicht die Menschen. Käuflich. Unbesonnen. Im persönlichen Umgang unmoralisch (besonders den Frauen gegenüber). Anmaßend. Arrogant. Und so weiter." Wenn das Miloszs Schwächen sein sollen: wie würden dann erst seine Stärken aussehen?

Christoph Bartmann | 30.09.2002
    Sein Lebenslauf, meint Milosz, habe eine gewisse Ähnlichkeit mit "Hans im Glück". Ob nun der Hochmut das Glück oder umgekehrt das Glück den Hochmut zur Folge hatte, ist schwer zu entscheiden. Festzustellen ist jedenfalls, dass Milosz, ganz ähnlich wie sein Landsmann und literarischer Rivale Gombrowicz, auch für große Geister wenig Respekt aufbringt. Ein Beispiel: An der Universität von Berkeley, wo Milosz seit Anfang der sechziger Jahren lehrte, war auch der berühmte Logiker Alfred Tarski tätig, der so genannte "Einstein der Westküste". "Er hatte es", erinnert sich Milosz, "in einer Wissenschaft zu Ruhm gebracht, in der mich nie auch nur ansatzweise um Erfolg bemüht hätte." Hätte sich Milosz, so darf diesen Worten entnommen werden, in der Disziplin der mathematischen Logik ebenfalls um Erfolg bemüht, so wäre ihm alsbald auch noch der Nobelpreis für Mathematik zugefallen. Das ist ohne Zweifel sehr hochmütig, aber es ist ein Hochmut ohne Fall. Im Gegenteil, Milosz darf sich von der Weltgeschichte bestätigt fühlen. Mit seinem Essayband "Verführtes Denken" hatte er 1953 eine der frühesten Programmschriften gegen den Stalinismus verfasst. Der Nobelpreis 1980 ereilte ihn dann mit der selben Folgerichtigkeit, mit der 1989 das sozialistische System auseinanderbrach und dissidente Intellektuelle wie Milosz ein für alle Mal ins Recht setzte.

    "Mein Abc" enthält Eintragungen zu nichts bestimmten: Ansätze zu einer Autobiographie, philosophische Glossen, kleine Porträts von Freunden und Feinden. Man könnte das Buch auch eine , Inventur" nennen. Manche kommen besser weg - vor allem der Autor selbst, andere schlechter. Auch wo Milosz die Leistungen anderer gelten lässt, kann er einen maliziösen Unterton nur schwer unterdrücken. Beispiel Rimbaud: nicht nur die polnische Lyrik verdanke ihm eine Menge, heißt es anfangs, dann aber: seine Legende beruhe wesentlich darauf, dass Rimbaud ein Idol der Jugendrevolten geworden, etwas, wie Milosz eint, "für Backfische", kaum mehr als "ein Lieblingsthema für die Medien". Mit der großen Ausnahme Schopenhauers (den er rückhaltlos bewundert) verfährt Milosz mit seinen Figuren vorwiegend ungnädig - als habe er schon während des Schreibens die Lust an ihnen verloren und wolle sie nun möglichst schnell los werden. Wohl auch deshalb enden viele seiner ABC-Eintragungen so sang- und klanglos, als handle es sich um ein ganz privates Tagebuch. Oder ist Milosz so selbstbewusst, dass er glaubt, auch seine Voreingenommenheit gegenüber bestimmten Menschen sei für heutige Leser erkenntnisfördernd? Man kann jedenfalls eine leichte Enttäuschung nicht verhehlen, wenn man hoffte, in diesem Buch die Summe aus Miloszs wahrhaft buntem Leben gezogen zu bekommen. Vieles bleibt merkwürdig matt, und immer wieder steht der eigene Ruhm im Vordergrund.

    Nach dem Nobelpreis lag es auf der Hand, dass Milosz, immerhin ein langjähriger Antikommunist, auch einmal zu Ronald Reagan ins Weiße Haus geladen würde. Und so kommt es, James Michener ist auch da, der Architekt Pei und Frank Sinatra. Aber so genau wollten wir das eigentlich gar nicht wissen.

    Wenn sich dieses Buch trotzdem zu lesen lohnt, dann vor allem wegen der Erinnerungen an Litauen. In ihnen und nur in ihnen spürt man, dass Milosz, der Lyriker und Essayist auch ein Erzähler ist. "Liebe, erste" heißt ein Eintrag, und er führt in einem Satz in eine lang versunkene und vom Zauber der Erinnerung neu belebte Welt. "In der Nähe meines Geburtsortes fließt die Niewiaza zwischen zwei Hochebenen dahin, und an den steilen Uferhängen erscheinen in Abständen von ein bis zwei Kilometern die grünen Parkanlagen der dortigen Gutshäuser^" Dort auf einem dieser Höfe, der einer alten litauischen Adelsfamilie gehörte, hat sich der achtjährige Milosz im Jahre 1919 in die schmalen nackten Schultern eines gleichaltrigen Mädchens verliebt. "Ich war so gerührt und begeistert", schreibt er siebzig Jahre später, "dass es mir die Kehle zuschnürte, und natürlich hatte ich keine Ahnung, dass man dies Liebe nennt."

    Den Namen des Mädchens hat Milosz, wie so vieles, vergessen. Sicher sei sie aber 1940 mit ihrer Familie nach Sibirien deportiert worden. Milosz selbst wäre es kaum anders ergangen, aber er war, ist und bleibt eben ein Glückspilz. "Ich staune selber über mein Glück", schreibt er einmal, "denn ich bin wie eine Katze immer auf allen vier Pfoten gelandet." "Mein ABC" ist Miloszs ganz persönliches Glücksmärchen, das unwahrscheinliche Glücksmärchen eines Litauers vom Jahrgang 1911 - und warum sollte man auf sein Glück weniger stolz sein als auf seine Verdienste?