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"Mein Europa der Einwanderer"

In der Metro in Paris sprach ich einmal eine Frau an, die mir gegenübersaß. Ich sagte ihr, dass mir ihre Ohrringe gefielen. Ich fragte sie, wo sie sie gekauft hätte. Eigentlich waren mir ihre Ohrringe vollkommen egal, aber ich glaubte ihr erklären zu müssen, warum ich sie betrachtet hatte. Ich hatte sie schon eine ganze Weile gemustert, während sie im Fenster ihr Spiegelbild fixierte.

Von Gila Lustiger | 04.06.2009
    Die Frau schaute mich kurz verwirrt an, sie konnte sich allem Anschein nach nicht entschließen, ob sie Lust hatte, sich mit einer Fremden in der Metro zu unterhalten, dann lachte sie unerwartet und antwortete. Wenn ich ihre Ohrringe erstehen wolle, sagte sie, so müsse ich in die Wüste gehen zu den Tuareg.

    Wir kamen ins Gespräch und ich erfuhr, dass sie Amber hieß. Sie war Buchhalterin in einem mittelständischen Unternehmen für Betonerzeugnisse. Sie war 58 Jahre alt. Ihre Eltern und Geschwister lebten in einer Oasenstadt im Südosten Algeriens. Mit 18 war sie nach Paris gekommen, hatte gejobbt und nebenbei Abendkurse besucht. Sie erzählte mir, während an uns die Stationen mit ihren grellen Lichtern vorbei zogen, dass sie als Kind in einem Zelt aufgewachsen war und dass ihre Familie seit Generationen vom Karawanenhandel lebte. Sie erzählte vom Aufschlagen und Abbrechen der Zelte und dass sie manchmal die Hitze vermisste und den leeren Horizont, die Helligkeit und den Sonnenuntergang, der die Sanddünen rosa verfärbte. Sie sprach mit einer angenehmen, leisen Stimme und ich hätte ihr noch lange zuhören können, aber sie machte sich schon zum Aussteigen bereit, veränderte ihre Körperhaltung, prüfte ihre Tasche, war schon auf dem Sprung. Und tatsächlich stand sie auf, als der Zug in die Station einfuhr, verabschiedete sich und ging. Ich blickte ihr nach, bis sie in einem der Gänge verschwunden war, die zu einer anderen Metrolinie führen und dachte noch eine Weile an die Beschreibung der Sanddünen, deren Wellenform sich fortwährend im Wind veränderte.

    Ich habe einmal einen serbokroatischen Schriftsteller, den es nach Paris verschlagen hatte, mit der gleichen Begeisterung und der gleichen Wehmut von der Kastanienallee vor dem Haus seiner Kindheit schwärmen hören. Es war natürlich ein vollkommen anderes Bild, aber es schwang der gleiche Unterton von Abschied mit. Er erzählte von der Farbe der Kastanienblätter, die vorne dunkelgrün waren und hinten hellgrün und vom Geruch der Kastanienblüten.
    "Sie duften doch überall gleich", habe ich einzuwenden versucht.

    Er hat nur mit dem Kopf geschüttelt und geantwortet: "Aber in meiner Kindheit mischte sich ihr Geruch mit dem Geruch des Kölnischwassers am Hals meiner Mutter, dem Geruch des frischen Bettzeugs, des Wachstuchs auf dem Tisch, des Kaffees, der Seife, der Gewürze, des Lederbands am Hut meines Vaters..."

    Kipling schrieb einmal, dass es alles in allem nur zwei Arten von Menschen auf der Welt gibt solche, die zu Hause bleiben, und solche, die es nicht tun. Kipling dachte natürlich in erster Linie an die vielen britischen Seefahrer und Hasardeure, an die Glücksritter und Spinner, die Großbritannien verholfen haben zu einer Kolonialmacht aufzusteigen.

    Aber nicht nur Abenteurer zieht es in die Fremde, auch Davongejagte und Flüchtlinge verlassen ihre Heimat, um sich vor Krieg, Verfolgung oder Hungersnot zu retten. Meist fehlt ihren Geschichten das Betörende. Meist sind es Geschichten, die keiner wirklich hören will. Geschichten von Erschöpfung und Lethargie, von Angst, Hunger, Heimweh und der Hoffnung, irgendwann einmal ein ganz normales Leben zu leben.

    Europa hat beides gekannt: Einwanderungs- und Auswanderungswellen. Und es ist so offensichtlich, dass es nicht einmal zu erklärt werden braucht, dass Zeiten, in denen Menschen ihren Kontinent verlassen, weil sie kein normales Leben leben können, schlechte Zeiten sind.
    Mir hat übrigens einmal ein Taxifahrer, der mich nach einem langen, lauten Fest nach Hause brachte, eine recht gute Definition für "normales Leben" gegeben. Wir fuhren die leere Boulevard St Marcel entlang und hörten die "Mazurkas" von Chopin.

    Ich fragte ihn, wer der Klavierspieler sei und er sagte: "Dinu Lupati."

    Ich sagte: "Ah, ein Klavierspieler für Kenner."

    Und er sagte: "Ich komme aus Jünnan und bin Musikologe."

    Ob er denn auch wegen Chopin ..., fragte ich. Ich musste nicht weiter herumstottern.

    21 Jahre, sagte er, hätte er wegen "Verehrung der westlichen Kultur" im Gefängnis verbracht.
    Ich fragte: "Aber lohnt sich das. Ich meine, kann denn ein Lied oder ein Buch oder ein Gedicht, kann es denn wert sein ..."

    Er drehte sich zu mir um und grinste.

    "Junge Frau", sagte er, "sie haben es noch nicht bemerkt, aber sie haben einen riesengroßen Fleck auf ihrem weißen Seidenkleid. Ich nehme an, das Kleid hat Sie ein Vermögen gekostet."

    Ich blickte an mir herunter und tatsächlich hatte ich mich wieder einmal mit irgendeiner Soße bekleckert. "Und gleich", sagte er, "werden Sie sich furchtbar darüber aufregen."

    Ich habe mich tatsächlich ein wenig geärgert, aber ich habe auch gelacht. Sich über einen Soßenfleck aufzuregen oder über einen eingerissenen Fingernagel, über die Metro, die man verpasst hat oder über Sprühregen, dass uns Menschen darum beneiden, wer hätte das gedacht !

    Kurzbiografie:

    Gila Lustiger, geboren 1963 in Frankfurt am Main, Tochter des Historikers Arno Lustiger. Mit 18 Jahren zog sie nach Israel. Dort studierte sie Germanistik und Komparatistik an der Hebräischen Universität Jerusalem. Von 1983-86 lebte sie als Lektorin für deutsche Literatur und Kinderliteratur in Tel Aviv. Dann zog Lustiger nach Paris, wo sie zwischen 1987-89 als Journalistin für die deutsche Redaktion von Radio France Internationale und das Pariser Büro des ZDF arbeitete. Seit 1989 ist sie Lektorin beim Verlag Albin Michel und übersetzt auch aus dem Hebräischen und Französischen ins Deutsche. Zu ihren Übersetzungen zählen Werke der israelischen Dichter T. Carmi und Asher Reich, sowie des französischen Schriftstellers Jules Supervielle.
    1995 erschien Gila Lustigers erster Roman, "Die Bestandsaufnahme". Darin schildert sie in Episoden den Alltag und die Vernichtungsmaschinerie des Nationalsozialismus. "Aus einer schönen Welt" (1997) beschreibt das Leben in einer Kleinfamilie und die Suche einer wohlsituierten Frau nach Selbstverwirklichung. Mit "So sind wir" (2005) schrieb Lustiger die Chronik ihrer eigenen Familie und gleichzeitig eine Geschichte der europäischen Juden. Mit diesem Werk stand sie 2005 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Zuletzt erschien "Herr Grinberg & Co." (2008), eine philosophierende Geschichte für Kinder und Erwachsene über das Glück.
    Gila Lustiger lebt mit ihrer Familie in Paris.


    Mehr zur Europawahl finden Sie auf den Seiten der Bundeszentrale für politische Bildung.