Dienstag, 23. April 2024

Archiv


Mein neuer Bruder, meine neue Schwester

Wenn Mütter und Väter nach einer Trennung ihre Kinder mit in eine neue Beziehung nehmen, entsteht eine Patchwork-Familie. Häufig wird das als Verlust natürlich gewachsener Nähe gesehen. Neue Studien zeigen: Eine andere Form von Geschwisterlichkeit und Verwandtschaft kann entstehen.

Von Martin Hubert | 10.02.2011
    .
    "Da war ich, glaube ich, eineinhalb Jahre alt, und da haben sich meine Eltern getrennt, deswegen kenne ich es auch gar nicht mit Mama und Vater aufzuwachsen, also ich hatte nie so eine 'normale' Familie."

    Lilith D. ist 18 Jahre alt.

    "Und mein Vater hat dann, als ich vier war und gerade im Kindergarten war, seine Frau kennengelernt. Mit der bin ich dann halt auch aufgewachsen, und meine Mutter hat halt kein Kind mehr bekommen. Und das ist halt eigentlich auch ganz schön, weil bei meiner Mutter bin ich halt Einzelkind, bei meinem Vater bin ich Familie, da habe ich Geschwister."

    Lilith D. ist ein Beispiel dafür, wie sich die Zeiten ändern - auch und gerade für Geschwister.

    "Das war eigentlich bis jetzt immer so, dass ich bei meiner Mutter war und dann aber also auch einen bestimmten Tag bei meinem Vater hatte oder eine bestimmte Anzahl von Tagen. Dass ich halt montags bei meinem Vater war und dienstags bei meiner Mutter und dann wieder Mittwoch vielleicht da . Und am Wochenende, es war immer genau aufgeteilt, also ich war das eine Wochenende bei meiner Mutter, das nächste dann bei meinem Vater, und es war immer abwechselnd."

    Ein paar Tage lang ist Lilith D. Einzelkind bei der Mutter, an den anderen Tagen lebt sie in der Familie ihres Vaters mit zwei Halbschwestern zusammen. Eine davon ist acht, die andere elf Jahre jünger als sie.

    "Wobei diese größeren Altersabstände heute häufiger zu beobachten sind aufgrund der Tatsache, dass heutzutage die Familienformen variabler, pluraler geworden sind - 'patchwork' sprichwörtlich geworden sind. "

    Hartmut Kasten ist Psychologe und Geschwisterforscher an der Universität München und beobachtet den neuen Trend zur Patchwork-Familie seit fast zwei Jahrzehnten:

    "Heute erleben weniger als die Hälfte der Kinder das 18. Lebensjahr in derselben Familie."

    Patchwork: ein Flickenteppich aus bunt Zusammengewürfeltem. Eltern trennen sich und teilen die Kinder zeitlich auf die neuen Familien auf. "Geschwister haben" heißt hier: mit Stief- und Halbgeschwistern zusammenleben. Heute soll nach Schätzung des Deutschen Jugendinstituts in München etwa jede siebte Familie davon betroffen sein. Der Soziologe Christian Alt vom Deutschen Jugendinstitut in München;

    "Und dann hat man die Schwierigkeit, dass alle diese Patchwork-Familien oder Stieffamilien vor dem Problem stehen, dass sie keine gemeinsame Historie haben. Das heißt: Andere Familien haben diese gemeinsame Historie und haben sich daraus entwickelt und wissen quasi mit diesem gemeinsamen Gut umzugehen."

    Eine Studie über Schweizer Familien an der Universität Lausanne ergab für das Jahr 2007: 39 Prozent der Jugendlichen aus traditionellen Familien gaben an, schon ein oder mehrere Male gegen ein Gesetz verstoßen zu haben, Bagatellfälle eingerechnet. Bei Kindern mit einem alleinerziehenden Elternteil waren es 48 Prozent. An der Spitze standen jedoch Jugendliche aus Patchwork-Familien mit 58 Prozent. Die Kriminologen, die die Befragung durchgeführt hatten, machten als Ursache dafür schwächere Bindungen zwischen den Personen in einer Patchwork-Familie aus. 20 Prozent der Jugendlichen aus Patchwork-Familien gaben an, eine schwache Beziehung zu mindestens einem Elternteil zu haben. In traditionellen Familien waren es lediglich sechs Prozent.

    "Weniger Nähe, weniger Intimität, weniger Vertrauen, auch nicht dieses innige liebevoll einander Zugeneigtsein, sondern mehr Distanz, man lebt halt so jeder sein Leben mehr."

    Der Münchner Geschwisterforscher Hartmut Kasten.

    "Stellt sich die Frage: Führt das automatisch zur Abnahme von Sozialem, wird es dann eben wirklich immer mehr Ellbogen und immer mehr Konkurrenz und Sich-voneinander-Abgrenzen geben und immer weniger kleine, freundschaftliche Bündnisse?"

    Kennzeichnet also zunehmende Fremdheit die Beziehungen in der modernen Familie? Treten Neid, Streit und Eifersucht an die Stelle natürlicher Nähe? Gerade wenn man andere Trends in der Gesellschaft hinzunimmt wie die fortschreitende Individualisierung, Flexibilisierung und Mobilität - führt das alles nicht zur Auflösung der gewachsenen Verwandtschaftsbindungen? Nicht unbedingt, meint die Kölner Ethnologin Julia Pauli. Vielmehr sei in Bezug auf die Modelle der Geschwisterbeziehung und der Verwandtschaft ein Umdenken nötig. In ihrer Wissenschaft habe das bereits stattgefunden:

    "In dem, was heute als 'Neue Verwandtschaftsethnologie', 'new kinship studies', bezeichnet wird, da steht vor allem die Frage im Vordergrund, wie Verwandtschaft gemacht wird."

    Klassisch habe man auch in der Ethnologie unter Verwandtschaft hauptsächlich biologisch definierte oder durch feste Regeln vorgegebene Bindungen zwischen den Menschen verstanden.

    "Anders als die Vorstellung in den klassischen Ansätzen ist hier eher die Frage also: Wie in der Vielfalt der Möglichkeiten kommt es zu bestimmten Formen, welche sozialen Praktiken führen dazu, dass man Menschen als nahe, als Verwandte empfindet? Verwandtschaft ist eine der zentralen Systeme, Formen des menschlichen Seins, um eben Kohäsion, Unterstützung, Sicherheit, aber natürlich dann auch die Kehrseite: Abgrenzung, Streit etc. zu produzieren. Und ich glaube, dass es deshalb auch so stark ausgehandelt wird, aber sie können das nicht in einem linearen Zusammenhang meines Erachtens verstehen, sondern in einem Kontextuellen."

    Das lineare Modell der Familie und der Geschwisterbeziehungen ordnet bestimmte Familienformen wie auf einer Kette hintereinander an. Das vermittelt den Eindruck, als gäbe es zwischen ihnen eine naturwüchsige Abfolge. Das Modell ist heute noch immer sehr populär und wird häufig als bare Münze genommen. Demnach stünde am Anfang der Geschichte die Großfamilie: viele biologisch mehr oder weniger miteinander verwandte Personen leben in verschiedenen Generationen eng miteinander zusammen und unterstützen sich. Danach entwickelte sich allmählich die Kleinfamilie, in der ein Elternpaar mit seinen Kindern zusammenlebt. Und heute kämen eben als historische Auflösungs- und Übergangsformen noch die Single- und die Patchwork-Familie hinzu. Aber dieses Verständnis von Familie, meint Julia Pauli, stimme historisch gesehen noch nicht einmal für Europa:

    "Da haben Historiker intensiv Arbeit geleistet und zeigen das deutlich, dass sich das vor allen Dingen aufgrund von Sterblichkeit schon so lange man historisch dokumentieren kann findet. Also das ist vor der Reduktion der Müttersterblichkeit im 19. Jahrhundert, als viele Frauen im Kindbett gestorben sind, und dass diese Ehemänner, die ihre Frauen verloren haben, in der Regel dann nicht Witwer blieben, sondern dass es zu einer Wiederheirat kam. Und das ist durchaus ein gängiges Muster, da sehen sie ganz deutlich, dass es durchaus verbreitet war, das was wir heute als Patchwork-Familie bezeichnen."

    Bereits im 19. Jahrhundert existierten also zum Teil Mischformen von Groß- und Patchwork-Familien: Großmütter, Tanten oder andere Familienmitglieder halfen oft mit, um die bunt zusammengewürfelte Kinderschar in der neuen Ehe eines Mannes aufzuziehen. Außerdem gab es nicht selten Kinder unehelicher Herkunft , die "Bastarde", die mit in die Familien aufgenommen wurden. Bis zur Einführung der Zivilehe in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde beispielsweise im Südwesten Deutschlands eines von sechs Kindern unehelich geboren.

    Die Patchwork-Familie ist demnach - historisch gesehen - ein alter Hut und hat selbst bereits unterschiedliche Gestalten angenommen. Julia Pauli zieht daraus einen radikalen Schluss. Um besser zu begreifen, was in Patchwork-Familien geschieht, müsse man sich von engen und überkommenen Verwandtschaftsmodellen der Familie lösen und den Blick weiten - über Europa hinaus.

    Das Dorf Fransfonteine: Einfache lehmfarbige Hütten mit Wellblechdächern, aus denen ab und zu eine Fernsehantenne ragt. Auf dem kargen Boden wächst kaum etwas. Viele Bewohner verlassen die Region zumindest zeitweise, um anderswo ihr Auskommen zu finden. Die Familien werden auseinandergerissen. 20 Monate lang hat Julia Pauli bei einer traditionell lebenden Volksgruppe im namibischen Fransfontaine gelebt. Im Rahmen eines großen Forschungsprojekts wollte sie unter anderem die Verwandtschaftsverhältnisse dieser Volksgruppe erkunden, die in einem ehemaligen Homeland in einer der trockensten Regionen der Erde lebt.

    Aufgrund früherer Missionierung tragen die Bewohner dieser Region zum Teil westliche Namen. Sie verständigen sich in einer exotischen Klicksprache: der sogenannten Kwikwi . Diese Sprache , bemerkte Julia Pauli, enthält spezielle Wörter für besondere Geschwisterbeziehungen:

    "Das heißt etwa 'Taman (klick) are'. Und das 'Taman' steht halt für 'nicht'; und 'kei(klick)are' steht für 'gemeinsam groß werden': das heißt, man wird entweder gemeinsam groß oder man wird es nicht."

    In Fransfonteine bezeichnen sich Menschen auch als Geschwister, wenn sie gemeinsam wichtige Erfahrungen miteinander geteilt haben:
    "Das sind dann solche Geschichten, dass zum Beispiel zwei Mädchen sagen wir im Alter von sieben und acht Jahren geschickt wurden zu einer entfernt gelegenen Farm, auf der vor allen Dingen auch Viehwirtschaft betrieben wird und sie haben eine Fläche, die einfach sehr groß und sehr leer ist, wo aber durchaus viele Gefahren sind, etwa in Form von Tieren, von Schlangen usw. Diese beiden Mädchen laufen eben alleine und schaffen es eben nicht, abends wieder zurück zu kommen. Diese gemeinsam geteilte Erfahrung, eben auch das Durchleben von Angst auch dann das In-der-Lage-Sein so etwas gemeinsam zu überwinden, sich gegenseitig zu stützen, das sind die Erfahrungen, die dann in der Summe - das entsteht durch einen bestimmten Lebenskontext - dazu führen, dass das Beziehungen sind, die als 'kai(klick)are' bezeichnet werden und die eben diese besondere Nähe haben."
    Die Menschen in Fransfonteine unterscheiden also zum einen innerhalb der meist großen und kinderreichen Familien klar zwischen engen und distanzierten Beziehungen zu den Geschwistern. Zum anderen gibt es "Geschwisterschaft" aber auch aus geteilter Erfahrung: zwischen Personen, die nicht oder nur entfernt miteinander verwandt sind. Zum Beispiel zwischen Judy und Kanna:

    "Sowohl Judy als auch Kanna haben sehr ausführlich in den Interviews geschildert, wie sie zum Beispiel Krankheiten gemeinsam überstanden haben, wie sie sich gepflegt haben, wie sie sich Essen gegenseitig gebracht haben, wie sie sich getröstet haben, wie sie sich aber auch gemeinsam gefreut haben, wie sie sich das erste Mal verliebt haben und der anderen das anvertrauen konnten. Das sind ganz entscheidende Momente, die dann interessanterweise als Geschwisterbeziehungen klassifiziert werden. Also das Zusammenwachsen - 'kei(klick)are' - ist das, was eben dann eine Schwesterbeziehung in Gang setzt."

    In der namibischen Volksgruppe gibt es also eine klare Differenzierung zwischen Geschwisterbeziehungen auf rein biologischer Grundlage und Geschwisterbeziehungen durch gemeinsames Erleben. Bei einer Studie in Mexiko entdeckte Julia Pauli eine ähnliche Unterscheidung. Hier bezeichnen sich Frauen oft als Schwestern, die sich im Bereich der stark tabuisierten Sexualität gegenseitig aufklären und unterstützen. Julia Pauli ist davon überzeugt, dass sich dieses Modell geschwisterlicher Beziehungen auch auf westliche Patchwork-Familien übertragen lässt. Pauli:

    "Meine These ist, und da bin ich ja nicht ganz allein, sondern da gibt es ja auch einige Kollegen aus Nachbardisziplinen, dass ein entscheidendes Moment, warum es zu einer geschwisterlichen Nähe kommt, also wann man sich als Geschwister fühlt, darin besteht, ob man zentrale Erfahrungen gemeinsam teilt."

    "Wir wissen aus den Untersuchungen über Kinder, dass sie eigentlich andere Kinder immer erst einmal als eine Chance sehen und weniger als ein Risiko."

    Auch Christian Alt vom Deutschen Jugendinstitut in München meint, dass Geschwisterbeziehungen in Patchwork-Familien dann gut funktionieren, wenn sie vor allem auf das "Prinzip Erfahrung" setzen.

    "Das heißt die Perspektive der Kinder bei solchen Sachen wäre immer die: welche Möglichkeiten hätten wir denn, passen die uns, wie kriegen wir das zusammen, was die anderen an Potenzial haben, was wir als Potenzial haben, was machen wir daraus?"

    Und das bedeutet praktisch:

    "Würde man die Kinder, ohne dass sie voreingenommen wären für eine bestimmte Position oder Situation, lassen, dann würden die das ähnlich machen wie sie es am Strand machen, wenn sie fremde Kinder kennenlernen und wissen, die nächsten drei oder vier Wochen bin ich mit denen zusammen, dann würden die sozusagen zuerst einmal interessiert sein an den Kindern und an den Möglichkeiten, die sich aus dieser neuen Beziehung ergeben."

    Studien zeigen jedoch, dass oft das Gegenteil geschieht. Man lässt den Patchworkkindern nicht die Chance, unvoreingenommen aufeinander zuzugehen und Beziehungen aufzubauen. Alt:

    "Dass also Familien sozusagen indoktriniert werden in der Art und Weise, dass man sagt: Ihr seid euch schon klar, dass das nicht euer Vater ist, der Neue, sondern der kommt als Fremder rein, ihr wisst quasi gar nicht, ob der euch wohl gesonnen ist, ihr wisst auch nicht, was der mit euch machen wird und Ihr werdet doch nicht die Beziehung zu eurem eigenen Vater aufgeben, oder wie auch immer."

    Die alten Normen der biologischen Verwandtschaft werden gegen die Patchwork-Realität in Stellung gebracht.

    "Den Kindern würde es im Prinzip helfen, wenn man ihnen da nicht rein redet, sag ich mal so ganz flapsig. Das Interessante ist, dass Kinder auch keinen Unterschied machen nach einiger Zeit zwischen leiblichen Geschwistern und nicht leiblichen Geschwistern, für die ist es selbstverständlich. Das ist eine schöne Untersuchung, die in Österreich gelaufen ist, die zeigt: nach einer gewissen Zeit unterscheiden die nicht mehr und die sagen auch nicht mehr: Das ist sozusagen nur mein Stiefgeschwister oder es ist meine Halbschwester oder dies oder das oder jenes. Sondern die sagen tatsächlich: 'Das ist meine Schwester, das ist mein Bruder.' Und sie akzeptieren sozusagen diese Lebensform oder diese Bedingung deutlich besser als es die Erwachsenen machen."

    Nähern wir uns einer neuen Geschwisterkultur der geteilten Erfahrung, die die Gesellschaft bereichert? Kann diese vielleicht sogar auf andere Familienformen zurückwirken und die Geschwisterbeziehungen entkrampfen? Oder werden doch die negativen Tendenzen überwiegen? Statt solchen Fragen nachzuhängen, meinen Julia Pauli und Christian Alt, sollte man besser einfach von den Realitäten ausgehen: In Zukunft werden die traditionellen Familienformen und die Patchworkfamilie nebeneinander existieren. Die Kunst besteht dann darin, die für jede Familienform günstigste Verfahrensweise zu akzeptieren und zu praktizieren. Und das bedeutet für Hartmut Kasten, den Münchner Geschwisterforscher, dass das Prinzip der geteilten Erfahrung auf jeden Fall eine zunehmende Rolle spielen und die traditionellen Geschwisterbeziehungen ergänzen wird - ja muss.

    "Kinder brauchen einander wie ein Lebenselixier, Ob es jetzt leibliche Geschwister sind, die mehr oder weniger stark für einander da sind, oder ob es Freunde sind, Spielfreunde in kleinen Gruppen, das mag schlussendlich keine gravierende Rolle sein. Wichtig ist dieser Vereinzelung, jeder begreift sich als hier ein Stückchen als Einzelkämpfer, gleichgültig wie viel Geschwister er hat, dass diese Vereinzelung kompensiert wird. Und es mehren sich auch Anzeichen dafür, dass sich gerade die junge Generation wieder besinnt auf die Tragfähigkeit von Freundschaften, wo dann auch Empathie und Mitgefühl eine große Rolle spielen. Ich glaube, dass sich zwangsläufig, wenn wir in einem Bereich darben, eben was so Nähe und Intimität und vertraute Beziehung angeht, wir zwangsläufig ein Stückchen auch in Richtung zu anderen Menschen hin wieder stärker orientieren, einfach aufgrund unserer vitalen Abhängigkeit von anderen."