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Meine Mutter, die Herrin der Zeit

Justine Lévy ist die Tochter des Philosophen Bernard-Henri Lévy, und allein ihr Name weckt in Frankreich Interesse. Mit 21 Jahren veröffentlichte sie ihren ersten Roman, weitere erfolgreiche folgten. Alle sind autobiografisch, erzählen von ihrer Tablettensucht, ihrem Weg aus der ehelichen Symbiose. In ihrem neuen Werk "Schlechte Tochter" beschreibt sie das Verhältnis zu ihrer Mutter.

Von Sigrid Brinkmann | 20.05.2010
    Hart wie ein Felsen will die "schlechte Tochter" sein und so königlich wie die Mutter in jungen Jahren: "unsterblich, unerbittlich", eine "Herrin der Zeit". Wenn die Mutter sagte, es ist Tag, war es Tag, und wenn sie beschloss, es sei Nacht, war es Nacht. Justine Lévy hat einen dritten autobiografischen Roman in Ich-Form geschrieben. Man kennt das Personal bereits aus den ersten beiden Büchern: die Alice genannte Mutter und Vater Bernard, der als einziger seinen wahren Namen behalten durfte. Justine nennt sich Louise, ihr Lebensgefährte heißt Pablo.

    Die Erzählerin Louise trauert um ihre Mutter, die nie fürsorglich handelte und also keine wirklich gute Mutter war. Wir erleben die "schlechte Tochter" als werdende Mutter, die in der irrigen, schuldbehafteten Annahme lebt, sie könnte die Komplizin des Todes ihrer Mutter gewesen sein. Dass eine Schwangerschaft beginnt, während das Leben der eigenen Mutter zeitgleich verlischt, ist eine schwere Bürde. Überdies fürchtet die Erzählerin, selber als sorgende und erziehende Kraft zu versagen.

    "Wenn man vorbildlos aufgewachsen ist und auch nichts hatte, gegen das man rebellieren konnte, dann hat die Freiheit, die einem daraus erwächst, bei alledem etwas Entfremdendes. Sie ist zu groß. Sie wurde nicht erkämpft, sondern nur ausgehalten. Mir wurden überhaupt keine Grenzen gesetzt. Dieses Gegenmodell wirkt schon sehr stark. Ich glaube, dass ich die Beziehung zu meiner eigenen Tochter ganz einfach spiegelverkehrt gestalte."

    Die Einsamkeit der Erzählerin wirkt beklemmend. Ein wenig ungläubig folgt man den aberwitzigen Eskapaden der Mutterfigur, all ihren selbstsüchtigen und unberechenbaren Handlungen. In jungen Jahren war sie ein begehrtes Modell berühmter Fotografen. Ihre Spontanität laugte sämtliche Freunde aus. Sie vernachlässigte ihr Kind, schickte es mit zwei Jahren allein außer Haus in die Krippe, missbrauchte es als Drogenkurier und überließ es bekifften Freundinnen - bis der Vater Bernard einschritt und es zu sich nahm. Immer wieder aber sucht die Tochter Trost in der verflogenen Schönheit der Mutter.

    "Für mich zeugte ihre Schönheit auch von moralischer Schönheit, das heißt sie war jemand Schönes. Ihre Schönheit berührte einen, sie war bewegend und nicht nur etwas Ästhetisches. Und als dann plötzlich ihr Verfall einsetzte, als der Alterungsprozess durch die Krankheit rapid beschleunigt wurde, habe ich mich gefragt, ob sie das noch ist."

    Drogen, Alkohol und schließlich die Krebserkrankung zehrten die Mutter auf. Justine Lévy errichtet der Schönheit einen Tempel und muss, vielleicht um das Entsetzen zu dosieren, doch auch die zunehmenden Zerfallserscheinungen beschreiben.

    "Ist man immer noch man selbst, wenn man sich nicht mehr ähnelt, wenn man nicht mehr denkt und spricht, wie man es vermochte, wenn man nicht mehr den gleichen Körper hat, nicht mehr die gleichen Haare, die gleichen Verhaltensweisen. Was ist es denn, das uns vielleicht trotzdem noch dieselbe Person sein lässt? Bleibt man bis zum Ende dieselbe Person oder hört man auf, man selbst zu sein?"

    Dass zum Begräbnis der Mutter eine große Zahl notorischer Trinker kam, die zu ihren letzten Gefährten zählten, rundet das Bild einer Exzentrikerin, die auf Konventionen pfiff, ab. Justine Lévys Roman atmet von der ersten bis zur letzten Seite Liebe für ihre Eltern. Die Selbstbezichtigung, die im Buchtitel anklingt, will sie auch als Augenzwinkern verstanden wissen. "Mauvaise fille" - schlechte Tochter - nennt man im Französischen auch ein garstiges Biest, ein dummes Luder, das allzu sehr mit den eigenen kleinen Problemen beschäftigt ist. Und Justine Lévy hat in ihren Romanen stets darauf bestanden, das einmal geschaffene Image als notorische Lügnerin und Spielerin zu erhalten.

    Es ist die feine Ironie, die ihr selbstzweifelndes Bekenntnis und die Ausbreitung familiärer Geheimnisse zu einem Lesegewinn macht. Ihre Ratlosigkeit wirkt nicht eitel, nicht kokett. Der Ton des Romans "Schlechte Tochter" ist intim. Man lässt sich mitnehmen von einer jungen Frau, die eine gute Mutter werden möchte und deren grundlegende Ängstlichkeit nirgends lächerlich wirkt. Wird Justine Lévy für ihr nächstes Buch zur Abwechslung einmal ein nicht-familiäres Sujet suchen?

    "Meine Mutter ist wirklich die Hauptperson meiner Romane, auch in 'Nicht so tragisch', selbst wenn es da weniger offensichtlich ist. Ich bin noch immer nicht fertig mit ihr und möchte irgendwann herausfinden, wie es für sie war, in der Bretagne aufzuwachsen und in Klosterschulen erzogen zu werden. Dazu fehlt mir augenblicklich noch der Mumm, aber in der Zwischenzeit würde ich gern ein paar Geschichten schreiben, die die Leute zum Lachen bringen. Und mich selbst auch."

    Justine Lévy: Schlechte Tochter
    Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
    Antje Kunstmann Verlag, München, März 2010, 175 Seiten, 17,90 Euro