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"Meine zweite Natur"
Theorie zum Jäten und Graben

Von Florian Felix Weyh | 30.04.2015
    Schrebergärtner gelten - hierzulande zumindest - als biedermeierliche Gestalten. Alles Revolutionäre ist ihnen fremd. "Bevor ich in die Erdhöhle eines Murmeltiers Brandbomben werfe, habe ich doch gerne etwas Theorie zur Hand."
    Das allerdings klingt verdächtig: Wozu braucht der Gärtner Theorie? Bestenfalls benötigt er Anleitungen, Pflanzhinweise, Düngevorschriften. Und dass man aus Unkrautvernichtern Sprengsätze basteln kann - nun ja, dieses Potenzial wurde von städtischen Rabauken durch Zweckentfremdung entdeckt. Gärtner sind biedermeierliche Gestalten!
    "Ein Nagetier, dessen Hirn in einen Fingerhut passt, kann vielleicht den einen oder anderen Kampf gewinnen, am Ende geht der Sieg in diesem Krieg aber doch zwangsläufig an das größere Hirn. Die gesamte Naturgeschichte spricht zugunsten des Gärtners. Was macht denn unsere Spezies die ganze Zeit auf diesem Planeten, wenn nicht genau in solchen Kämpfen zu siegen?"
    Murmeltiere sieht man in deutschen Gärten eher selten, doch wenn man die Rolle des Bösewichts mit dem Maulwurf besetzt, klingt die Gefühlslage gleich vertraut. Und ewig hungrige Rehe gibt es ja auch hier; die muss man mit einem Elektrozaun vom Gemüsebeet fernhalten:
    "Man hat mir geraten, den Draht mit Erdnussbutter zu bestreichen, um die Rehe mit der gänzlich unbekannten und unvergesslichen Empfindung eines Elektroschocks bekannt zu machen; danach sollten sie eigentlich endgültig wegbleiben. Der Strom wird aus einem Solarkollektor kommen, der auf einem der Pfosten angebracht ist und sich wie eine gigantische Hightech-Blüte nach der Sonne streckt. Dieses letzte Detail kommt mir wie ein hübsches Jiu-Jitsu-Element vor: Die Energie aus der Natur wendet sich gegen ein paar ihrer eigenen Kinder."
    Man mag es kaum glauben, doch dieser martialisch klingende Text ist in einem deutschen Ökologieverlag erschienen! Bei aller Ironie bleibt er für Romantiker, denen Mensch und Natur stets liebend gegenüberstehen, wohl ein diestelartiges Gebilde. Denn der amerikanische Wissenschaftsjournalist Michael Pollan betrachtet Gärtnern als Eingriff in und Angriff auf die Natur. Klassische Naturphilosophen wie Emerson und Thoreau liest er parallel zum Jäten und Graben, um dabei festzustellen, dass sie mit seiner Arbeit wenig zu tun haben. Als Reflex auf die Industrialisierung verklärten sie Wald und Wiese zur virgo intacta, auch wenn sich zu ihrer Zeit die wilden Wälder und Wiesen Amerikas längst durch menschliche Einflüsse kultiviert hatten. Den Löwenzahn zum Beispiel gab es vor der weißen Besiedlung nicht, er wurde aus Europa mitgebracht:
    "Die Kolonisten schätzten den Löwenzahn als grünen Salat. (...) Obwohl die meisten Unkrautarten sich zusammen mit den Weißen vorwärtsbewegten, pflanzten sich andere, wie etwa der Löwenzahn, von sich aus (...) rasend schnell Richtung Westen fort und kamen dort lange vor den Pionieren an. So war also die angeblich jungfräuliche Landschaft, auf der das Auge der nach Westen vordringenden Siedler ruhte, bereits gezeichnet von ihrer eigenen Zivilisation."
    Das ist ein erfrischend ideologiefreier Blick, obwohl das Buch aus der Sturm-und-Drang-Zeit der ökologischen Bewegung stammt und ihr Michael Pollen durchaus angehört. 1991 wurde es in den USA veröffentlicht, hat also über 20 Jahre gebraucht, um von einem hiesigen Verlag entdeckt zu werden. In der Sprache der Botanik gälte es als Hybrid, als Mischling aus süffisanter gärtnerischer Autobiografie und stilistisch glänzendem Naturessay, darin eingekreuzt eine Kultur- und Sozialgeschichte des Gartens als gesellschaftlicher Spiegel. Jener keck der Zivilisation voranschreitende Löwenzahn etwa ist die Geißel des Rasenliebhabers, und mit dem Rasen verknüpft sich die Urfrage der Demokratie in Amerika:
    "Der traditionelle Entwurf einer Vorstadtstraße ist darauf ausgerichtet, eine Vielzahl gleichwertiger individueller Landparzellen zu einer homogenen Gesamtansicht zusammenzuführen - einer demokratischen Gartenlandschaft. Den eigenen Anteil an dieser Landschaft zu pflegen, gehört zu den bürgerlichen Pflichten. (...) Man mäht jeden Samstag seinen Rasen. Nun ist es natürlich so, dass es für das demokratische System viel leichter ist, den Nichtwähler zu verkraften, als für die demokratische Gartenlandschaft, mit dem Nichtmäher zurechtzukommen. Ein einziger nicht gemähter Rasen verdirbt die gesamte Wirkung und verkündet der Welt, dass hier in Utopia keineswegs alles in Ordnung ist."
    "Meine zweite Natur" von Michael Pollan öffnet im Lesesessel ein Fenster nach draußen. Man fühlt sich animiert, beim nächsten Spaziergang genauer hinzusehen, was wir als Unkraut und was als Nützling, was als schön und was als hässlich betrachten. Die Einschätzungen divergieren heftig. Zu seiner Verblüffung muss der Autor erkennen, dass die von ihm geliebte Trauerweide - eine ästhetische Beglückung - von bäuerlichen Nachbarn als widerliche Baumplage angesehen wird.
    Und wiederum zu seinem eigenen Erstaunen verwandelt erst eine mit dem Rasenmäher geschlagene Schneise die natürliche Wildwiese hinterm Haus in ein optisches Juwel. Erkenntnisreich der philosophische Diskurs über Unkraut, erhellend die Bemerkungen zu invasiven Pflanzenarten, denen man - wie dem ursprünglich japanischen Kudzu - "beim Laufen zusehen kann": 30 Zentimeter Wachstum am Tag sind kein Pappenstiel. Am Ende stellt sich die Frage, warum der Mensch überhaupt Naturphilosophie betreibt? Pollans Antwort ist eines jedenfalls nicht: Anthropozentrisch.
    "Die Natur ist wahrscheinlich kein geeigneter Ort, um nach Werten zu suchen. Die Ankunft der Menschheit interessierte sie nicht, und es interessiert sie auch nicht, ob wir überleben."
    Michael Pollan: "Meine zweite Natur. Vom Glück ein Gärtner zu sein", aus dem Amerikanischen von Eva Leipprand, Oekom Verlag, 360 Seiten, 19,95 Euro