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Meister der ironischen Alltagsbeobachtung

Der österreichische Autor Karl-Markus Gauß erweist sich auch in seinem neuen Band mit Reisereportagen als aufmerksamer Chronist der europäischen Ambivalenzen. In "Im Wald der Metropolen" bereist er die weniger bekannten Seiten Europas.

Von Günter Kaindlstorfer | 31.01.2011
    Karl-Markus Gauß ist eine Art Bruce Chatwin der europäischen Peripherie. Zog es den reiselustigen Österreicher früher zu vergessenen kleinen Völkerschaften in Litauen, Venetien oder Ex-Jugoslawien, wagt er sich diesmal auch in tourismuskompatible Metropolen, nach Bukarest, Belgrad oder Neapel zum Beispiel.

    Dabei hält sich Gauß, das ist Teil seines Lebens- und Schreibprogramms, grundsätzlich abseits der ausgetretenen Pfade. Was treibt den Schriftsteller an, seine Heimatstadt Salzburg immer wieder hinter sich zu lassen und nach Serbien, Tschechien, Frankreich oder Polen aufzubrechen?

    Karl-Markus Gauß: "Ich glaube, eigentlich dasselbe, das mich auch antreibt, nicht zu reisen, oder das mich antreibt, Reisen in Bibliotheken zu unternehmen. Ich bewege mich als Literat und als Literaturkritiker gern in jenen Bibliotheksabteilungen, in denen vergessene, unbekannte oder totgeschwiegene Autoren katalogisiert sind. Und bei den Reisen ist es eigentlich dasselbe: Ich fahre gern dort hin, wo noch nicht jeder war, ohne allerdings dem Mythos eines Abenteurers zu huldigen, aber um etwas zu schreiben, von dem man nicht sagen könnte, das ist jetzt das fünfzehnte Buch über die Banlieus von Berlin oder Ähnliches. Ich möchte beim Reisen wie beim Lesen für mich unbekanntes Terrain erkunden."

    Auch in seinem neuen Buch erweist sich Karl-Markus Gauß als Meister der essayistischen Reisereportage, ein Genre, das ihm bereits in der Vergangenheit einigen Ruhm eingebracht hat. Ob er sich in Siena auf die Spuren slowakischer Bettler heftet oder in Neapel einer interaktiven Straßentheateraufführung beiwohnt, ob er im polnischen Oppeln mit Angehörigen der Minderheit der sogenannten "Schlonsaken" zusammentrifft oder im Wiener Arbeiterbezirk Ottakring sich auf die Fährte des slowenischen Exildichters Ivan Cankar begibt – Gauß hat ein feines Gespür für die Brüche und Widersprüche der europäischen Kulturgeschichte.

    Dabei weiß Karl-Markus Gauß, dieser Parteigänger der europäischen Aufklärung im Stadium der Postmoderne, bis heute nicht so recht, was das eigentlich sein soll, europäische Identität:

    "Wenn ich es wüsste, hätte ich das Buch vielleicht nicht schreiben müssen. Ich weiß es jetzt weniger denn je. Ich habe mich allerdings in den letzten 20 Jahren schon in einer Richtung so entwickelt, dass ich ursprünglich ein vehementer und leidenschaftlicher Kritiker dessen war, was man die 'europäischen Werte' genannt hat und 'europäisches Selbstverständnis'. Das Ganze überhebliche Getue mit den angeblich so besonderen europäischen Werten ist mir sehr auf die Nerven gegangen. Mittlerweile entdecke ich doch da und dort Zusammenhänge, die mir eigentlich nicht mehr nur kritisierenswert erscheinen, sondern von denen ich auch etliches bewahrt wissen möchte. Das ist zum Beispiel eine gewisse skeptische Grundhaltung zur eigenen Existenz. Das ist auch eine gewisse Beharrung auf bestimmten individualistischen Konzepten. Das sind Dinge, die mir jetzt nicht mehr so verächtlich erscheinen, wie sie mir noch vor zehn oder 20 Jahren erschienen sind, als ich glaubte, das wäre reine Ideologie, das wäre nur der äußere ideologische Glanz, der erzeugt wird, um wirtschaftlich profitable Dinge in die Wege zu leiten."

    Aufklärung und Barbarei, Humanismus und Obskurantismus, der Kampf um die Menschenrechte und Pogrom lagen stets eng beieinander in der europäischen Geschichte, so viel wird klar bei der Lektüre der Gaußschen Reisebetrachtungen. Wie brüchig der scheinbar so tragfähige Boden unserer Zivilisation ist, davon konnte sich Gauß in der kroatischen Gemeinde Jasenovac überzeugen. In der Nähe des 2000-Einwohner-Dorfs befand sich einst das berüchtigte Ustascha-KZ Jasenovac, in dem zwischen 1941 und 1944 an die 100.000 Menschen ermordet worden waren, Serben, Juden, Roma und kroatische Oppositionelle. In den 1990er-Jahren tobte auch in Jasenovac ein brutaler Krieg zwischen Serben und Kroaten, die sich gegenseitig ihre Häuser in die Luft sprengten.

    Die kroatischen und serbischen Kommandeure von damals, so berichtet Gauß in seinem Buch, sitzen heute als Kriegsverbrecher in niederländischen oder schwedischen Gefängnissen und spielen dort einträchtig Schach miteinander:

    "Das Fußvolk der großen Massaker aber ist in die Dörfer und Städte, in das, was man das normale Leben nennt, zurückgekehrt, Mörder, die im Urlaub oder nach Dienstschluss töteten und nun wieder wohlanständige Bürger geworden sind."

    Das ist im Dorf Jasenovac nicht anders als in Hunderten anderen Dörfern und Gemeinden der Region. Mit bitterer Melancholie berichtet Gauß von seinem Besuch in Jasenovac.

    "In den neuen Häusern leben Kroaten, denen die serbischen Nachbarn ihr Haus demoliert haben, und Serben, denen die kroatischen Nachbarn das Haus demoliert haben, sie leben wieder nebeneinander, wie schon immer, ihre zerstörten alten Häuser vor Augen, und sie bestatten ihre Toten auf zwei verschiedenen Friedhöfen, die sich schon immer gegenüberlagen."

    So sieht sie aus, die "Pax Europeana" auf dem Balkan, einem von Gaußens bevorzugten Reisezielen.

    Immer wieder unternimmt der österreichische Autor in seinen Essays auch Ausflüge in die europäische Kulturgeschichte, ob er nun über die grimassierenden Charakterköpfe des Wiener Barockbildhauers Franz-Xaver Messerschmidt schreibt oder den vergessenen Biedermeierdichter Ernst von Feuchtersleben, ob er Jean Genet und seinem Kult der Gewalt nachspürt oder den Widersprüchen im Charakter des Renaissance-Gelehrten Enea Silvio Piccolomini, der sich gegen die Sklaverei und die Verfolgung der Juden aussprach, zugleich aber von einem blutigen Kreuzzug gegen die Osmanen träumte, vor allem, nachdem er 1458 zum Papst gewählt worden war.

    Was reizt Karl-Markus Gauß am Genre der essayistischen Reise-Reportage?

    "Das ist, dass ich dabei viele verschiedene Genres vermischen kann. Das entspricht mir, glaube ich. Das sind Glossen, das sind Reportagen, das sind kulturhistorische Exkurse, das sind relativ viele verschiedene literarische Genres zusammen, und das entspricht meinem Charakter und dem, wie ich literarisch geprägt oder begabt bin."

    Auch in seinem neuen Buch erweist sich Gauß, wie schon in früheren Werken, als Meister der ironischen Alltagsbeobachtung. In der mährischen Hauptstadt Brünn etwa fällt ihm ein Häuflein mantra-singender Hare-Krishna-Jünger auf.

    "Jammervoll dünn bimmeln die Glöckchen der Hare Krishna, die durch das katholische Brünn ihre Bahn ziehen, entrückt in ihren Singsang, der ein spirituelles Leben lang aus denselben zwei Wörtern und der immer gleichen Tonfolge besteht. Wer nichts anderes tut, als diese Tonfolge tanzend und das Tamburin schlagend zu wiederholen, wird nach einem Vormittag oder zwei Wochen blödsinnig geworden sein, auch wenn er es vorher nicht war. Aber er wird, denke ich mir, schon blödsinnig gewesen sein, als er damit begann, sich mit Gesang und Schellenklang auf den Weg durch die Städte zu begeben, die ihm nichts bedeuten als eine Ansammlung von Strecken, die er durchsingen muss, um zur höchsten Seligkeit zu gelangen."

    Auch in seinem neuen Buch präsentiert sich Karl-Markus Gauß als akribischer Rechercheur und präziser Beobachter, als aufmerksamer Chronist der europäischen Ambivalenzen. Gut reist, wer mit Gauß reist. Die großen Reiseschriftsteller der Vergangenheit – Georg Forster, Seume, Joseph Roth – sie hätten wohl ihre Freude an ihm gehabt.

    Karl-Markus Gauß: "Im Wald der Metropolen". Zsolnay-Verlag, Wien, 304 Seiten, EUR 19,90