Freitag, 19. April 2024

Archiv


Meister der ironischen Tonlage

Der australische Autor Richard Flanagan liebt den Humor - besonders den schwarzen. Und so bedient er sich auch bei eigentlich traurigen Thematiken der ironischen Brechung. In seinem neuen Werk "Mathinna" zeigt er den kläglichen Versuch von weißen Kolonialisten, ein tasmanisches Eingebornenmädchen zu "zivilisieren".

Von Tanya Lieske | 31.12.2009
    Richard Flanagan gehört zu den originellsten Stimmen der australischen Gegenwartsliteratur. Gerne erzählt er eine Anekdote – als sein erster Roman erschien, weigerte sich die australische Presse, diesen zu rezensieren, denn, so hieß es, er sprenge alle Genres. Der Autor nahm das als Kompliment und ist seinem Stil treu geblieben.

    Kennzeichnend für Flanagans Romane sind sehr dichte Plots mit vielen Figuren, die schon mal ganze Epochen oder Erdteile überspringen. Etwas Theatralisches haftet dieser Prosa an, die sehr knapp ist, bei aller Kürze viele Dialoge aufweist. Flanagan ist ferner ein Meister der ironischen Tonlage, er liebt den Humor in allen Spielarten, auch in der schwarzen.

    So weit, so gut. Was Richard Flanagan aus der Masse der Autoren heraushebt, die ähnlich versierte Techniken aufweisen, ist sein ungewöhnlicher Stoff. Dem nähert man sich am besten über den Schauplatz an. Flanagans erfolgreichster Roman, "Goulds Buch der Fische", und auch sein jüngster, "Mathinna", spielen in Australien, genauer im Bundesstaat Tasmanien, dort wurde Flanagan 1962 geboren. Die weiße Besiedelung des Kontinents ist sein zentrales Thema. In der Bearbeitung stellt sich Flanagan quer jeder australischen Tradition, die gleich zwei Gründungsmythen geschaffen hat: Einen positiven, den vom heldenhaften Siedler und einen negativen, den vom ausgelöschten Ureinwohner. Beiden Mythen erteilt Flanagan eine Absage:

    "Die Europäer, die Australien verwalteten, versuchten, die europäische Ordnung zu imitieren – das war müßig, und es war auch trübselig. Unter der Oberfläche geschah dabei etwas ganz Außerordentliches, das alte Europa verschmolz mit dem schwarzen Australien. Die Geschichte Australiens wird ja oft als vollkommene Kolonisierung und Zerstörung der schwarzen Kultur dargestellt. Das war aber nicht der Fall, ganz im Gegenteil, das neue weiße Australien hat viele schwarze Werte übernommen, den Humor der Ureinwohner, ihre Beziehung zum Land, zur Familie, zur Zeit, zum Geschichtenerzählen. Das macht uns als Land interessant, in dieser Kultur bin ich aufgewachsen und darüber schreibe ich."

    Richard Flanagan hat die europäischen Wurzeln Australiens zitiert und ironisch gebrochen. Damit rüttelt er an dem Fundament, auf dem viele weiße Australier ihre Identität gebaut haben. Man kann Flanagan, der längst ein anerkannter und preisgekrönter Gegenwartsautor ist, als einen Meister der doppelten Brechung bezeichnen. Wenn er über Australien schreibt, dann schreibt er eigentlich über den äußerst schmerzhaften Prozess, eigene Identitäten zu formulieren:

    "Als junger Mann habe ich in Europa gelebt und ich habe auch gedacht, ich sei Europäer und sei an einem europäischen Ort aufgewachsen. Und dann habe ich festgestellt, dass ich ganz anders bin als die Europäer. Die europäische Zivilisation ist großartig, doch meine Welt sieht ganz anders aus. Wenn ich also Schriftsteller werden wollte, konnte ich meine Welt nicht aus einem europäischen Blickwinkel betrachten, ich würde damit scheitern. Es war meine Aufgabe, eine ironische Distanz zur europäischen Romantradition zu schaffen."

    Eine der Hauptfiguren in Flanagans Roman ist Sir John Franklin. Der Seefahrer ist eine Idealfigur für sein Erzählanliegen, ist er doch auf der Suche nach neuen Kontinenten und, metaphorisch gesehen, stets unterwegs zum eigenen Ich. Zwischen seinen Polarreisen war Franklin sieben Jahre lang von 1836 bis 1846 Gouverneur von Van Diemens Land, so hieß Tasmanien vor seiner Umbenennung in der Mitte des 19. Jahrhunderts.

    Flanagan beschreibt, wie bei ihrer Ankunft in der Kolonie Franklins Frau, Lady Jane, ein Eingeborenenmädchen erblickt, es heißt Mathinna. Mathinna ist eine Waise, ihre Eltern wurden längst von den weißen Eroberern umgebracht. Lady Jane ist fasziniert von dem Mädchen und setzt all ihren Ehrgeiz daran, die junge Wilde zu zivilisieren. Sie wird kläglich scheitern. Mit Mathinna, die erbärmlich und sehr jung stirbt, erlebt der Leser noch einmal das ganze katastrophale Ausmaß der Kolonisierung. Interessant ist dabei die Perspektive Flanagans, er schaut seinen Figuren über die Schulter und bewahrt stets den Horizont ihrer Zeit. Auch im Gespräch vermeidet Richard Flanagan den Begriff des Völkermords:

    "Ich würde den Mord an den Aborigines nicht als Genozid bezeichnen, das ist ein Begriff aus dem 20. Jahrhundert und meint, dass ein Staat aus ideologischen Gründen ein ganzes Volk auslöscht. In Tasmanien sprach man damals von einem Vernichtungskrieg, er war nicht von staatlicher Seite aus organisiert, wurde aber vom Staat unterstützt. Es gab dafür auch nicht ideologische, sondern wirtschaftliche Gründe, was die Sache nicht besser macht. Ich habe darüber geschrieben, weil es zu meiner australischen Identität gehört, und im Gegensatz zu Deutschland hat sich Australien nicht seiner historischen Schuld gestellt. Mich treiben aber nicht politische Gründe an, diese Geschichte ist ein Teil von mir, und es ist die Aufgabe des Schriftstellers, über seine eigene Wahrheit zu schreiben."

    Ein zweiter Handlungsstrang des Romans ist dem Autor Charles Dickens gewidmet, der von der inzwischen verwitweten Lady Jane Franklin in Dienst genommen wird, um das Ansehen ihres verschollenen Ehemanns zu rehabilitieren. Dickens Leidenschaft für die viel jüngere Schauspielerin Ellen Ternan ist uns von Biografen verbürgt. Mit großer Kunstfertigkeit verbindet Richard Flanagan die Geschichte dieses ungleichen Paares mit der der Franklins. Da, wo sich beide Handlungsebenen berühren, entsteht eine Dritte. Flanagans Roman ist nämlich nur an der Oberfläche ein Roman mit historischen Stoffen, im Kern kreist er um die Einsamkeit des Individuums und um die zerstörerischen Kräfte von Leidenschaften.

    Der Figur des Charles Dickens fühlt sich der Autor besonders verbunden, durch ihn dringt ein weiteres, ein drittes Thema an die Oberfläche. Es geht in dem Roman Mathinna auch um die Kraft des geschriebenen Wortes, auch um den Preis, den der Autor dafür zu zahlen hat.

    "Ich fühle mich allen Figuren nah, wollte niemanden beurteilen – aber vielleicht sollte ich Charles Dickens besonders erwähnen, mir gefällt die Vorstellung, über das Schreiben zu schreiben – diese Texte zeigen uns oft, dass im Schreiben auch eine vernichtende Kraft wohnt. Wenn man über den Erfolg des Werks hinausblickt, erkennt man, dass der Schriftsteller ein beschädigtes Wesen ist. Autoren müssen mit dieser modernen Vorstellung von einer Karriere leben, sie schreiten scheinbar von Erfolg zu Erfolg und werden dadurch größer. Aber ich glaube, für viele trifft das Gegenteil zu, sie schreiben ein paar gute Sachen und viele schlechte, und sie zahlen dafür einen großen Preis, denn sie haben einen Teil von sich selbst auf dem Weg verloren. Das wollte ich mit Charles Dickens deutlich machen."

    Richard Flanagans "Mathinna" gehört zweifelsohne zu den sehr guten Romanen. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass er trotz seiner gedanklichen und stofflichen Dichte eine anregende und unterhaltsame Lektüre bietet. Peter Knecht hat den Text gewohnt souverän ins Deutsche übertragen.

    Richard Flanagan: Mathinna. Aus dem Englischen von Peter Knecht. Atrium Verlag, Hamburg 2009, 302 Seiten, 22 Euro