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Meister der leisen Poesie

Mit der Familiengeschichte "Jacob schläft" wurde Klaus Merz 1997 international bekannt. Nun hat der Autor mit "Aus dem Staub" einen Lyrikband vorgelegt - allerdings nicht seinen ersten.

Von Michaela Schmitz | 13.12.2010
    Im heldenhaften Kampf um die verlorene Ehre der einfachen Wörter könne er nicht immer bestehen. Das bekennt der kühne Bleistiftritter und lyrische Sprecher von Klaus Merz' Gedichtband "Aus dem Staub" schon in seinen ersten Versen. Für den Don Quijote der Poesie jedoch kein Grund, das Schreibgerät beiseitezulegen. Denn seine poetische Lanze öffne ihm den Blick in die Seelen. Unbeirrbar folgt der sanfte Ritter der spitzen Feder deshalb seinen literarischen Vorbildern in den jahrtausendealten Feldzug im Namen der Poesie.

    "Durch die thrakische Ebene
    führt der Weg zurück in die Stadt.
    Rhodopen und Balkangebirge säumen
    das flache Land. Ein Begleiter
    weist auf das Denkmal hin
    für die Gefallenen der ent-
    scheidenden Schlacht:

    Gräser des Sommers
    von allen stolzen Kriegern
    die Reste des Traums

    notierte Matsuo Bashō auf
    dem Feld von Hiraizumi."


    Diese wenigen Gedichtzeilen enthalten ein ganzes poetologisches Glaubensbekenntnis. Es weist in zwei Richtungen. Die eine Spur führt nach Thrakien, zum "goldenen Reich des Orpheus". Hier im Rhodopengebirge soll der mythische König seine Wurzeln haben. Mit seinem Gesang habe Orpheus sogar die Götter der Unterwelt besänftigen können. Sein Name steht daher für die Macht der Poesie und die Unsterblichkeit der Seele. Behutsam folgt der lyrische Sprecher in seinen eigenen Versen Orpheus' Spuren. Und reiht sich damit selbst in eine jahrtausendealte epische Tradition ein. Die andere Richtung weist auf den japanischen Haiku-Meister Bashō.

    In wenigen Worten von präziser Einfachheit stellt dieser das Unbegreifliche dar: Nichts vom unauslöschlichen Ruhm der stolzen Krieger sei geblieben als das Gras über ihren Gräbern, so Bashō. Seine Verse entstanden beim Besuch von Hiraizumi – Zentrum einer tragisch untergegangenen ruhmreichen Hochkultur. In drei kurzen Gedichtzeilen hat Bashō sie unsterblich gemacht. Die Verse im eigenen Gedicht zitierend, verneigt sich der lyrische Sprecher wiederum vor dem Haiku-Meister. Mit seiner doppelten Verbeugung vor der buddhistisch orientierten Haiku-Tradition und dem antiken Epos markiert er sein eigenes poetologisches Selbstverständnis.

    Dichten im Sinne der antiken Mythologie bedeutet, am Menschheitsepos weiterzuschreiben; durch aktives Erinnern in der Überlieferung, Vergangenes im Gedächtnis zu bewahren. Poetische Wirklichkeiten zu schaffen, kann aber auch heißen, Leben zu gestalten. Dichtung als Lebensform – für Haiku-Meister Bashō ist Kado, der Weg der Poesie, Quelle der Erleuchtung. Zwischen diesen großen literarischen Wegmarken setzt der lyrische Sprecher schmunzelnd sein eigenes bescheidenes poetisches Denkmal.

    Wenige präzise Andeutungen genügen dem Autor Klaus Merz, um ein Füllhorn von Assoziationen und Bezügen zu öffnen – hier wie in den anderen Gedichten des Bandes "Aus dem Staub". Aus einem Dutzend kurzer Verse lässt Merz im Kopf des Lesers einen ganzen Gedankenkosmos entstehen. Oft genügen ihm sogar nur eine Handvoll knapper Zeilen. Ein Zyklus im Band besteht sogar ausschließlich aus Vierzeilern. "Große Geschäfte" nennt Klaus Merz ihn augenzwinkernd nach dem folgenden Gedicht:

    "In der Tiefe des Ladens lehnt sie
    am Südfrüchteregal und schaut zu
    wie die Sonne als erste Kundin
    über ihre Schwelle tritt."


    Aus einem einzigen schlichten Satz entwickelt Klaus Merz ein Polaroid mit Ewigkeitscharakter. Gravitationszentrum des poetischen Stilllebens sind die Magnetworte "Sonne" und "Südfrüchte". Aus ihnen entsteht das Sehnsuchtsvakuum, das im scharfen Kontrast zum leeren Ladenlokal seine imaginative Sprengkraft gewinnt.

    Noch kürzer sind die Gedichte im Zyklus "Einschlüsse". Die Dreizeiler orientieren sich nicht nur formal, in ihrer bildkräftigen Einfachheit, Schlichtheit und Klarheit der Sprache am japanischen Haiku. Wie die poetischen Zen-Meditationen wollen sie über die reine Anschauung alltäglicher Dinge im gegenwärtigen Moment einen Blick hinter die Dinge ermöglichen. In einem solchen Augenblick der Ewigkeit kann selbst eine banale Pfütze auf dem Waldweg zum Spiegel Gottes werden:

    "In der Radspur des Försters
    sammelt sich Himmel: Legt
    (es) Gott auf uns an?"


    Gedichte aus der Pfütze, Poesie "Aus dem Staub". Klaus Merz' Verse entstehen aus dem Nichts. "Nichts ist wirklicher als das Nichts", sagt Samuel Beckett. Im Gedicht "Glückliche Tage" setzt Merz dem großen Denker des Nichts ein poetisches Denkmal. In Klaus Merz' Gedichten nimmt das Nichts Gestalt an. Merz lässt das Schweigen in seine wortkargen Zeilen hinein. Nur so bieten die Worte für ihn Widerstand und Halt gegen den Tod. Erst dann, so Merz, hielten sie ihren Schild bannend vor unsere uralte Grundangst, hoffnungslos verloren zu gehen in der Welt.

    Klaus Merz: Aus dem Staub. Gedichte. Haymon Verlag 2010. 84 Seiten, 16,90 Euro