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Melancholische Welt

"Ich komme, falls das zugestanden ist, zu dem Ergebnis, daß die ganze Welt melancholisch, verrückt und aus dem Häuschen ist, und zwar in allen Teilen." Der Autor dieses skeptischen Befunds ist weder Psychiater noch Soziologe, auch versteht er sich nicht als Satiriker, sondern vielmehr als Verfasser eines ‚Ratgebers‘, der aus der Perspektive eines Betroffenen zur Feder gegriffen hat.

Von Bernd Mattheus | 01.09.2004
    Robert Burton, er lebte von 1577 bis 1640, wirkte als Geistlicher und Gelehrter am Christ Church College von Oxford. Mit seiner Anatomie die Melancholie veröffentlichte er 1621 ein Kompendium, das zum Bestseller avancierte: es erlebte binnen vierzehn Jahren vier erweiterte Neuauflagen und wuchs von ursprünglich 800 Seiten auf 1300 an. Den enzyklopädischen Ehrgeiz des Klerikers belegt allein die Tatsache, daß dieser mehr als 1000 ‚Autoritäten‘ zitiert, von der Bibel bis zu den Ärzten und Philosophen der Antike sowie seiner Zeit.

    Gleichwohl verbirgt sich der Theologe, bekennende Stoiker und Eremit hinter dem Pseudonym "Demokrit Junior", denn dieser Zeitgenosse des Sokrates sei ebenfalls Melancholiker gewesen, das heißt heimgesucht von der "schwarzen Galle der Schwermut". Der Begriff Melancholie wurde dem Griechischen entlehnt, seine wörtliche Übersetzung lautet "schwarze Galle". Die Säfte- und Temperamentenlehre der Hippokrates und Galen popularisierte solche Metaphern. Burton unterscheidet allein 88 Grade von "fieberfreier Verrücktheit", "grundloser Angst und Trübsinn", "Geistesgestörtheit oder Seelenqual".

    Wie einförmig grau wirkt dagegen die Depression der Neurosenlehre Freuds! Zwar bezieht sich Burton auf das medizinische Wissen von mehr als anderthalb Jahrtausenden, verleiht aber andererseits der Melancholie die Qualität einer anthropologischen Konstante, indem er behauptet, sie sei das "Signum unserer Sterblichkeit". Wo die Ärzte nur Krankhaftes erblicken konnten – immerhin waren die Kapazitäten der Antike häufig Mediziner und Philosophen in Personalunion -, fragt Burton polemisch: "wer ist kein Narr? Wer ist frei von Melancholie?" Stellt er nicht grundsätzlich allgemeinverbindliche Normen wie gesund oder krank, normal oder wahnsinnig in Frage, wenn er konstatiert: "welcher Wahn spukt in uns allen. Denn wir sind allesamt verrückt, nicht sporadisch, sondern immer"? Zum Beweis seiner These zitiert er prominente Melancholiker wie Zenon, Cato, Sokrates, Polykrates, Augustus oder Karl V.

    Um sich als kompetenter Fachmann zu empfehlen, bekennt der Engländer: "Ich rede aus schmerzlicher Erfahrung, und ich möchte anderen aus Mitgefühl helfen." Dies verspricht auch der Untertitel des Handbuchs: ‚Über die Allgegenwart der Melancholie, ihre Ursachen und Symptome sowie die Kunst, es mit ihr auszuhalten‘. Benennt Burton die Ursachen der Schwermut, so müssen wir angesichts seines Katalogs jede Hoffnung fahren lassen, ihr jemals zu entkommen. Denn ungünstig sind geographische Einflüsse, also das jeweilige Klima und die Temperatur eines Landes. Dabei ist Hitze nicht minder schädlich wie Kälte und Trockenheit. Zu schweigen von den Jahreszeiten Herbst und Winter, schlechtem Wetter, Stürmen, Nacht, Dunkelheit, der Nähe von Mooren, der Auswirkung von Schmutz, Müll, mangelnder Hygiene.

    Noch weniger liegt die Bestimmung zum Melancholiker in unserer Hand, wenn die Konstellationen zum Zeitpunkt unserer Geburt negativ waren. Schicksalhaft würden sich der geistige wie auch körperliche Zustand der Kindsmutter während der Zeugung auswirken, gleichermaßen das Seelenleben der Schwangeren, je nach den Eindrücken, die diese zu verarbeiten hat. Als Mann des 17. Jahrhunderts kann sich Burton lediglich auf Astrologie und das berufen, was wir Aberglauben nennen, nicht auf Genetik oder die Psychologie des Ungeborenen.

    Was der Autor als selbstverschuldete Ursachen der Schwermut herauspräpariert, bezieht sich auf das Verhältnis von Maß und Übermaß in der Lebensführung. Alle Leidenschaften, der Exzeß, die Ausschweifung, die Orgie wären dem inneren Gleichgewicht ebenso abträglich wie das Gegenteil, der Asketismus. In Burtons Sicht teilen Hedonisten und Weltverachter ein und dasselbe Los.

    Man muß ihm nachsehen, daß er als Quelle der Melancholie deutet, was wir als Symptome der Depression zu lesen gelernt haben. Sei es Klaustrophobie, Hypochondrie, Schüchternheit, Angstzustände, Schlaflosigkeit, Kummer und Gram, sei es Mutismus, Lethargie, Misanthropie oder Soziophobie. Burtons Anatomie kann nur bedingt gelten als ein Manifest des Relativismus, erklärt er doch letztendlich die Gottlosigkeit seiner Zeit zur "Krankheitsursache". Neu zu entdecken wäre nicht so sehr ein Stichwortgeber von Foucaults Wahnsinn und Gesellschaft, als ein schonungsloser Kritiker der Gesellschaft seiner Epoche.

    Ein Kleriker, der Kirchenvätern wie auch Theologen Wahn und Torheit unterstellt, desgleichen Gelehrten und Philosophen, geißelt auf furiose Weise eine Menschheit, die sich negativ durch Werteverfall, Ungerechtigkeit, Korruptheit und Heuchelei auszeichnet. Der Soziologe in Burton kommt zu dem Schluß, daß Armut, Verelendung "Mißmut und Melancholie" erzeugen. Als pessimistischer Anthropologe schließt er sich dem Diktum des Zeitgenossen Thomas Hobbes [sprich: hobz ] an: "Der Mensch ist dem Menschen ein Teufel."

    Melancholiker erachtet Burton als "unheilbar Kranke", die Selbsterlösung nur im Suizid finden könnten. Unter den griechischen Philosophen kann er zahlreiche Befürworter des Freitodes zitieren. So Theognis, der vor 2600 Jahren befand: "Das Beste ist, nicht geboren zu sein – wenn man aber geboren ist, so eilig als möglich zu den Toren des Hades zu streben." Als Christ muß Burton diese radikale Lösung verwerfen, erklärt sie aber für entschuldbar bei Melancholikern, denn letztere wären für ihr Tun nicht verantwortlich.

    E.M. Cioran, der es aus leidvoller Erfahrung wissen mußte, empfahl als Therapeutikum bei schwerer Niedergeschlagenheit einen Gang über den Friedhof. Die von Ulrich Horstmann ausgewählte und übersetzte Ausgabe der Anatomie macht ein Standardwerk wieder zugänglich, dessen gesellschaftskritische Glossen durch ihre Aktualität faszinieren.

    Robert Burton:
    Die Anatomie der Schwermut
    Eichborn Verlag, 430 S., EUR 30,-