Freitag, 29. März 2024

Archiv


Melancholischer Schatten

Die Berliner Autorin Cornelia Staudacher hat mit zwölf Frauen Gespräche über ihr Leben geführt, die alle etwas gemeinsam haben: einen abwesenden Vater. Einige der Väter fielen an der Kriegsfront, einige kamen aus der Kriegsgefangenschaft nicht zurück, in einigen Fällen wussten Mütter und Kinder bis in die 50er Jahre hinein nicht, ob der Vater tot ist oder nicht doch eines Tages wie durch ein Wunder zur Tür hereinkommt.

Von Ursula März | 08.01.2007
    Es ist die Generation, der die heutigen Frauen in Deutschland, so zumindest heißt es immer, viel, wenn nicht alles verdankt: die Generation der Frauen, die in den 60er und 70er Jahren begannen, die Geschlechterwelt zu verändern, die Generation der Feministinnen, die geboren wurden, als der Zweite Weltkrieg noch nicht zu Ende war und ihn als Kinder noch erlebten. Frauen, die als kleine Mädchen mit ihren Müttern in den Luftschutzkeller rannten, nach 1945 den Hunger erlebten und bekämpften, auf die noch kleineren Geschwister aufpassten oder mit ihren Müttern alleine lebten. Denn es ist die Generation der Frauen, in denen viele Väter fehlten, die ohne männlichen Halt und oft ohne Männerbild aufwuchsen.

    Auf diesen Aspekt weist das zurückhaltende und dennoch eindringliche Buch "Vaterlose Töchter" von Cornelia Staudacher hin: ein Buch aus dem Geist von Oral History. Die Berliner Autorin und Kritikerin hat mit zwölf Frauen Gespräche über ihr Leben, ihre Familie, ihre Herkunft geführt, die alle etwas gemeinsam haben: einen abwesenden Vater. Einige der Väter fielen an der Kriegsfront, einige kamen aus der Kriegsgefangenschaft nicht zurück, in einigen, den schwierigsten Fällen, wussten Mütter und Kinder bis in die 50er Jahre hinein nicht, ob der Vater noch lebt oder nicht, ob er eines Tages wie durch ein Wunder zur Tür hereinkommen wird, oder ob die Familie die Hoffnung auf ein Wunder aufgeben muss. In einigen Fällen bedeutete das Leben mit dem Vaterphantom die gespenstische Kultivierung eines anwesenden Unsichtbaren. Es verging, erzählt eine Frau, kein Sonntag, kein Fest, kein Ausflug, ja keine einzige schöne Situation, in der es von der Mutter nicht geheißen hätte: Das würde Vati auch gefallen.

    Cornelia Staudacher überträgt die Gespräche mit vaterlosen Töchtern in diskrete protokollierende Erzählungen. Sie drängt sich weder sprachlich-stilistisch noch interpretatorisch vor ihre Gesprächspartnerinnen und überlässt es den Erzählungen der Lebensläufe selbst, wiederkehrende, gemeinsame Themen zu kristallisieren. Das wichtigste Thema: die unglückliche Mutterbeziehung. Denn fast alle der vaterlosen Kriegstöchter litten ein Leben lang am Gefühl der Überverantwortung für ihre Mütter, an einer moralisch aufgeladenen Enge, am Gefühl, den Lebensbetrug, den die Mütter durch Krieg und Witwenschaft erfuhren, ausgleichen und korrigieren zu müssen.

    "Ursula T. hat sich vorgenommen, auch weiterhin auf Distanz zu ihrer Mutter zu bleiben. Sie besucht sie zwar regelmäßig, aber ihre beruflichen Verpflichtungen und das Haus im Oderbruch, das sie mit dem Freund gekauft hatte und um das sie sich heute allein kümmert, sind Gründe genug, nicht so oft nach Dresden fahren zu können. Sie ist sich zwar im klaren darüber, dass sie als einzige Tochter inzwischen so etwas 'wie die Altersversicherung' ist für die 91jährige Mutter, die noch allein lebt und körperlich recht fit ist. Trotzdem klagt diese viel, ist mit ihrem leben gänzlich unzufrieden und sieht sich um alles Schöne betrogen. Dass sie es nicht geschafft hat, eine Familie zu gründen, obwohl sie eine gutaussehende Frau war und viele Verehrer hatte, erscheint ihr im Nachhinein als Makel."

    Ein ebenso wichtiges Thema: die unglückliche Männerbeziehung. Viele der Töchter männerloser Mütter blieben selbst allein oder waren es immer wieder gewohnt, das Leben auf den Schultern zu tragen. Einige zogen ihre Kinder allein auf, wie ihre Mütter sie selbst. Cornelia Staudachers Buch liegt unter einem melancholischen Schatten. Es zeigt, dass auch Glücksempfinden erlernt werden muss und dass der Mangel davon sich von Generation zu Generation vererben kann. Ein halbes Jahrhundert nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs macht sich sein Schatten in der Alltags- und Lebenssoziologie bis heute bemerkbar.