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Melange von Missverständnissen

Bekannt geworden ist sie mit ihren Büchern "Tannöd" und "Kalteis", in denen sie historische Mordfälle neu erzählt - in einer dichten, archaischen Sprache. Jetzt hat Andrea Maria Schenkel das tragische Schicksal einer jungen Frau aus dem Bayerischen Wald in einen packenden Krimi verwandelt.

Von Detlef Grumbach | 21.05.2012
    "Was mich bewogen hat, mich überhaupt mit dem Ganzen näher zu beschäftigen, war der Vater. Ich hab da so ein Bild vor mir gehabt von so einem kleinen, ausgemergelten Mann mit so einer weiten Hose und Hosenträgern und so einem Hemd, ich weiß auch nicht, das war der Ausschlag."

    Am Beginn jeder Arbeit hat Andrea Maria Schenkel eine ganz bestimmte Szene vor Augen. Bei ihrem Debüt "Tannöd" war es das Bild der achtjährigen Betty, die mit der ganzen Familie umgebracht wurde, bei "Kalteis" die Hinrichtung des verurteilten Mörders. Bei "Finsterau", ihrem neuen Roman, war es das Bild eines Vaters, dessen Tochter Afra und dessen Enkelsohn 1947 in seiner Küche erschlagen wurden.

    "In dem Originalfall war es ja so, dass er beschuldigt wurde, seine Tochter und sein Enkelkind umgebracht zu haben. Und er wurde beschrieben als einer, der schwerhörig ist, also nicht dement, aber etwas schwerfällig. Und ich hab mir gedacht, wie wäre es, wenn jetzt jemand jemanden umbringt und sich ganz einfach nicht mehr dran erinnert. Wenn er selbst nicht mehr sagen kann: Hab ich die Person getötet oder hab ich sie nicht getötet? Stimmt das, was über mich gesagt wird oder stimmt das nicht? Und das war der Ausgangspunkt. Dieses Bild dieses Mannes."

    Die Anschuldigungen stimmten nicht. Der Mann aus Finsterau war unschuldig und wurde dennoch verurteilt. Achtzehn Jahre später sitzt Mattias Karrer in der Wirtschaft dieses Dorfes, das im Dreiländereck Deutschland, Österreich und Tschechien gelegen ist. Betrunken erzählt er von einem ungesühnten Mord, schläft darüber ein, verschwindet am nächsten Morgen. Doch seine Äußerungen bleiben haften und führen zu neuen Ermittlungen. Langsam kommt die Geschichte in Gang. In harten Schnitten montiert die Autorin die subjektiven Beobachtungen und Einschätzungen der Beteiligten, lässt einzelne Details in der Schwebe und schafft auf diese Weise eine dichte Atmosphäre, eine leise knisternde Spannung. Wie in ihren vorangegangenen Krimis verzichtet sie auf einen Ermittler, der den Überblick behält und irgendwann die Lösung präsentiert. Diese Rolle überlässt sie dem Leser.

    "Also beim gewöhnlichen Krimi, denk ich mir, ist es so, dass die Tat als solche im Mittelpunkt des ganzen Geschehens steht. Ich glaub, bei mir steht weniger die Tat im Mittelpunkt des Geschehens, sondern es sind mehr die Personen. Die eigentliche Geschichte ist die Geschichte der Personen dahinter oder der Gesellschaft, in der sich diese Personen bewegen. Also, es ist auf jeden Fall kein klassischer Krimi, weil man sozusagen das Happy End der Aufklärung am Ende nicht unbedingt hat."

    Ein Strang des Romans erzählt, wie der letzte Tag des Opfers mit all seiner Routine – ein Streit mit dem Vater, Wäsche waschen, das Kind versorgen – auf den Augenblick der Tat zusteuert. Nebenher wirft er Schlaglichter auf Afras prekäre Lage: Schon vor Jahren hatte sie das Elternhaus verlassen und war im letzten Kriegsjahr als Feindsliebchen mit einem unehelichen Sohn zurückgekehrt. Ein weiterer Strang setzt mit dem Mord ein und erzählt von Johann, dem Vater, der die Toten entdeckt: Wie gerät er unter Verdacht, wie verhält er sich, was äußert er in den Verhören? Die Figur eines Nachbarn kommt hinzu: Er hat einen Buckel, hat kein Glück bei den Frauen, bedrängte Afra immer wieder und hat auch am entscheidenden Tag sein Glück bei ihr versucht. Als weitere Figur tritt die Mutter auf, vervollständigt wird das Puzzle ungleichzeitiger, disparater Wahrnehmungen durch die Polizeibeamten, den Arzt und den Staatsanwalt, die achtzehn Jahre später, ausgelöst durch den Kneipengast, ihre Erinnerungen an das Geschehen zusammentragen und ihre damaligen Erkenntnisse neu ordnen müssen. Was bedeuteten beispielsweise die frischen Brotkrumen auf der Tischplatte? Unterstrichen sie die Kaltblütigkeit eines Mörders, der neben den Leichen seiner Opfer erst einmal frühstückt? Oder hatte sich ein Polizeibeamter zwischendurch einfach eine Brotzeit genehmigt. "Mich hat nie einer nach der Brotzeit gefragt. Warum auch?", gibt der Polizist jetzt zu Protokoll. Der Leser hält die Fäden zusammen und langsam begreift er, wie es zu dem Fehlurteil kam. Bruchstückhafte Beobachtungen, ein eingeengter Blickwinkel und voreilig gezogene Schlüsse, eine gewisse Voreingenommenheit und Verbohrtheit – diese Melange, die den Humus alltäglicher Missverständnisse bildet, ist wohl das eigentliche Thema dieses Romans.

    "Ich denk jetzt da an meine Kinder. Die streiten über irgendwas, und dann hört man sich das an. Dann hört man von dem einen die eine Version und von dem anderen die andere. Normalerweise müsste man sagen, das sind zwei deckungsgleiche Geschichten, aber der Witz ist das, die sehen das natürlich anders. Der eine fängt schon viel eher an und sagt, ja, der Streit hat damit begonnen, dass er heute in der Früh dies oder jenes gemacht hat. Der andere sagt, alles war in Ordnung, bis ich ins Zimmer reinkam oder so, also wo fängt die eigentliche Geschichte an? Jeder sieht es aus seiner Perspektive und jeder meint natürlich, dass er die Wahrheit hat. Ganz klar."

    Zum Erfolgsrezept der Autorin gehört es, dass jedes ihrer Bücher einen eigenen, unverwechselbaren Kern hat, der über den Fall und die Zeit hinausweist. In ihrem Debüt "Tannöd" war dies die Wucht, mit der das Verbrechen die Sicht auf die Opfer in ein Vorher und ein Nachher teilt. So wie die bis dato unbescholtenen Opfer der rechtsradikalen Mordserie nur, weil sie Opfer wurden, plötzlich selbst in den Verdacht der Kriminalität geraten sind, wollte man in dem Roman plötzlich schon immer gewusst haben, dass auf Hof Tannöd etwas nicht gestimmt hat. Von Inzest ist die Rede, von Frömmigkeit, Habgier und Liebe. In "Finsterau" ist es die Macht der subjektiven Wahrheit, die den Blick auf die Tatsachen verstellt. Im Umgang mit den zeithistorisch verbürgten Fakten unterscheiden sich die Romane dagegen deutlich.

    Bei "Tannöd" hat die bereits zweimal mit dem deutschen Krimipreis ausgezeichnete Autorin sich so stark an der Dokumentation des Falls orientiert, dass ihr das sogar eine – vom Gericht allerdings abgewiesene – Plagiatsklage eingebracht hat. Auch im Fall "Kalteis" gab es Unterlagen, mit ihrem dritten Roman "Bunker" hat sie sich auf dem Feld des rein fiktionalen Erzählens ausprobiert. So wollte sie ihrem Ruf als "Heimatschriftstellerin" entgegenwirken.

    Mit "Finsterau" kehrt sie zu den Wurzeln zurück. Doch lag ihr in diesem Fall nur eine kurze Zeitungsnotiz vor. Die Folge: ein durchaus unterschiedlicher Umgang mit den Figuren, die im neuen Roman, wie auch schon in "Bunker", viel stärker zu Charakteren ausgepinselt werden. Hier die Gottergebenheit des Vaters, die ihn schon mit den Nazis in Konflikt brachte, die ihn aber auch lehrt, mit stoischer Ruhe vieles zu erdulden. Da der Freiheitsdrang und die Widerspenstigkeit der Tochter, die dem Vater an Sturheit in nichts nachsteht. Der Konflikt zwischen den beiden, die Möglichkeiten, die sich in den Wirren der Nachkriegszeit der Tochter boten, Soldaten, fahrendes Volk, zwielichtige Figuren, die plötzlich in der einsamen Grenzregion ihre Chance wittern – das alles verdichtet sich zu einer intensiven Atmosphäre, Raum und Zeit werden auch in der Sprache zum Leben erweckt.

    "Ich versuch in meinen Büchern, ein Abbild der Wirklichkeit eigentlich schon zu schaffen, also so ein Gefühl zumindest dafür zu kriegen, wie ungefähr es damals hätte gewesen sein können. Auch wieder in diesem Buch. Es spielt auch sehr stark die Sprache eine Rolle. Es wird eine Sprache verwendet, die es so in Bayern nicht mehr gibt, die so in Bayern nicht mehr gesprochen wird. Vielleicht habe ich meinen Weg darin gefunden, dass ich in gewisser Weise ein Chronist einer Zeit bin, die es so nicht mehr gibt, an die ich mich zwar noch erinnern kann, aber die an und für sich eigentlich untergegangen ist."

    Ist die Bedienung im Dorfkrug "grantig", fragt ein Gast? Wie soll sie denn nicht "hantig" werden, kontert sie. Das Wasser wird aus dem "Haferl" getrunken, der Bursch ist "anhabisch" und sucht in der Küche "ein Geld".

    "Spontan fällt mir das Wort "ausschwoam" ein: die Wäsche im Wasser spülen, im klaren Wasser spülen. Das ist das Ausschwoam. Man kann auch ein Haferl ausschwoam. Das hat meine Oma immer gesagt: Schwoam a mal das Haferl. Das heißt, ich spül das mit klarem Wasser. Meine Kinder, ich glaub, die würden da sitzen und es nicht mehr erkennen. Aber ich find es schade, dass es nicht mehr da ist, weil es ist so schön, es hat so einen schönen Klang, es hat so eine schöne Melodie. Ich find es unheimlich ausdrucksstark."

    Genau darin liegen die Stärken dieser Autorin: Sie lebt und atmet die Region, aus der sie ihre Stoffe bezieht, jenseits von Folklore und Idylle lässt sie eine untergegangene Welt erklingen und verleiht ihren Geschichten einen universellen Kern, der über sie hinausweist, der ihre Leserinnen und Leser heute berührt.

    Literaturhinweis:

    Andrea Maria Schenkel: Finsterau.
    Kriminalroman
    Hoffmann und Campe, 124 Seiten, 16,99 Euro