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Geschichte Aktuell: Heute vor 50 Jahren

. So lautete die Internet-Adresse für Titos Homepage – englisch getextet, also nicht in Ex-Jugoslawien entstanden, wie aus einigen verzeihlichen Fehlern erkenntlich ist. Da wird in einer Chronology erwähnt, dass Mitte Januar 1953 Tito zum ersten Präsidenten der Föderativen Volksrepublik Jugoslawien gewählt wurde, auf einer gemeinsamen Sitzung des Bundesparlaments und des Parlaments der Werktätigen des Bundesparlaments.

Wolf Oshlies | 13.01.2003
    Gemeint war das Bundesparlament (Savezna skupština) mit seinen zwei Kammern, dem Bundesrat (Savezno veće) und dem Rat der Völker (Veće naroda). Beide zusammen zählten 526 Abgeordnete, die damals den Marschall Josip Broz, genannt Tito, zum Präsidenten wählten. Möglich war das durch die gleichzeitige Novellierung der Verfassung von 1946. Diese – eine simple Kopie von Stalins sowjetischer Konstitution von 1937 – hatte bestimmt, dass das Präsidium des Bundesparlaments vor allem die Vollmachten eines Staatschefs ausübt, also das kollektive Staatsoberhaupt der Föderativen Volksrepublik Jugoslawien ist.

    Nunmehr wurde das alte Präsidium durch einen 30-köpfigen Bundesexekutivrat ersetzt, dem der Präsident der Republik vorstand. Die Ratsmitglieder amtierten als Bundesminister in ihren jeweiligen Ressorts, dabei beraten von den Vorsitzenden der Exekutivräte in den jugoslawischen Teilrepubliken. Über all dem schwebte Tito, der als Chef der Bundesregierung, Parlamentschef, Oberbefehlshaber und Staatsoberhaupt eine enorme Machtfülle in seiner Hand hielt. Zu viel für die Menschen?

    Genosse Tito, wir schwören dir, von deinem Weg nie abzuweichen – sangen die Menschen damals und meinten es ernst. Das Prestige dieses Mannes, Jahrgang 1892, hing nicht von seinen Ämtern ab, der internationale Respekt, den man ihm zollte, war enorm. Und er selber wusste, dass sein neues Amt im Grunde nur die Bestätigung des machtpolitischen Status quo war.

    Jahrzehnte später erschien in Jugoslawien eine Kassettenserie Tito govori (Tito spricht), eine gut gemachte Tondokumentation seines politischen Lebens, die dennoch schwer anzuhören ist. Was immer Titos Charisma ausmachte – seine rhetorischen Fähigkeiten waren es nicht. Den Leuten machte das nichts aus: Sie jubelten dem Stari (Alten) zu, wussten sich eins mit ihm, wenn er etwa kurz nach seiner Wahl von 1953 ein aufatmendes Resümee der jüngsten Vergangenheit zog:

    Heute fragen wir uns, wie wir das alles überstehen konnten. Wir konnten es überstehen, weil wir den festen Willen besaßen, zu allem entschlossen waren, das Volk hinter uns hatten, das genau wie wir wusste, dass wir im Recht sind.

    Zwei Monate nach seiner Wahl, am 16. März 1953, traf Tito zu einem einwöchigen Besuch in England ein, wo der Marschall politische Erfolge einheimste, zum Teil auch persönliche. Zehn Tage zuvor war Stalin gestorben, Titos Todfeind, und nun hörte man vom Ausmaß dieser Feindschaft. Details kennt der italienische Historiker slowenischer Herkunft Jože Pirjevec:

    Interessant ist, dass man nach Stalins Tod unter seinen Papieren einen Brief Titos fand, in dem dieser schrieb: Sie, Stalin, haben gegen mich alle möglichen Attentäter ausgesandt, die mich mit Revolvern erschießen oder mit Dolchen erstechen sollten. Keiner von denen hat Erfolg gehabt, denn wir konnten sie zum Glück alle unschädlich machen.

    Setz dich ans Ufer des Wadi und warte, bis die Leichen deiner Feinde vorbeigeschwommen kommen. Mit diesem zynisch-wahren arabischen Sprichwort könnte man die Lage beschreiben, in der sich Jugoslawien und Tito persönlich in jenem Frühjahr 1953 befanden: Der Marschall und seine Führungsgruppe hatten in acht Nachkriegsjahren Fehler über Fehler gemacht, dabei aber das unverschämte Glück gehabt, dank des immer frostigeren Kalten Kriegs in einer Weise zwischen Blöcken zu stehen, die scheinbare Verbündete, Stalins Kommunisten in der Sowjetunion und in ganz Osteuropa, zu erbitterten Gegnern machte, scheinbare Gegner, die USA und Westeuropa aber zu Förderern und Beschützern des scheinbaren Kommunisten Tito.

    Brüder und Schwestern, Genossen und Genossinnen! Wir verlangen, dass jeder Herr auf eigenem Boden werde. Wir werden keine fremden Rechnungen bezahlen!

    So sagte es Tito schon im Mai 1945 in Ljubljana, und diese Sätze standen für das geballte Selbstbewusstsein eines Politikers und Militärs, unter dessen Führung sich Jugoslawien als einziges Land Europas aus eigener Kraft befreit hatte – ohne die geringste Hilfe von Stalins Sowjetunion. Auch der Westen hatte wenig genug geholfen, und diese internationale Verweigerung war Tito Legitimation genug, sein Nachkriegs-Jugoslawien nach eigenen Plänen zu gestalten. Die Ende 1943 in Teheran zwischen Stalin und Churchill vereinbarte fifty-fifty-Einflussnahme auf Jugoslawien schraubte er auf Null. Und die von den Kriegsalliierten postulierte Rolle der vier Weltpolizisten ignorierte Tito selbst dann, als sie Sowjet-Marschall Žukov schon im Juli 1945 unüberhörbar anmahnte:

    Jetzt steht uns bevor, den Sieg zu sichern durch die Organisierung eines dauerhaften und gerechten Friedens unter demokratischen Völkern in der ganzen Welt. Auf der Wacht für diesen Frieden werden die hervorragenden Soldaten unserer Großmächte stehen.

    In jugoslawischen Augen waren die hervorragendsten Soldaten der Welt die eigenen Partisanen, für die internationale Rücksichten Fremdworte waren. Das alles bedingte kürzere oder längere Konflikte, die Tito noch eskalierte: 1946 ließ er gar zwei C 47-Flugzeuge der US-Armee über Triest abschießen, was ihm die USA äußerst verübelten – bezeugte Jože Pirjevec:

    Das war der erste kriegerische Akt nach dem Weltkrieg in Europa, der dem amerikanischen Prestige einen schweren Schlag versetzte und auf den die Regierung in Washington sehr heftig reagierte.

    Indem sie sich taub gegenüber Belgrader Wünschen stellte, die Gold-Milliarden zurückzugeben, die die königlich-jugoslawische Regierung bei Kriegsbeginn auf US-Banken in Sicherheit gebracht hatte. Und andere Verweigerungen mehr, die Jugoslawien angesichts von Wirtschaftssorgen und Dürrejahren in schwere Bedrängnis brachten. Aber Tito fuhr fort, in Kroatien die katholische Kirche zu bedrängen, in Griechenland die kommunistischen Rebellen im Bürgerkrieg zu unterstützen und weitere politische Sünden, die den Westen irritierten. Aber dann bewahrheitete sich an Tito die älteste Regel internationaler Beziehungen, dass nämlich der Feind meines Feindes mein Freund ist

    Auch wenn Tito den 5. Parteitag mit dem Ruf 'Es lebe Stalin' beendete, es war nur ein ordinärer Bluff. Alle Brücken waren abgebrochen, kein Kompromiss mehr möglich, wir gingen in eine offene Schlacht gegen die Sowjetunion.

    So erinnerte sich noch 1998 Vlado Dapčević, 1948 Polit-Kommissar der Militär-Akademie, an den damals hell lodernden Konlikt mit Stalin.

    Er brauche nur mit dem Finger zu schnippen und es gäbe keinen Tito mehr, hatte Stalin gemeint. Ein folgenreicher Irrtum angesichts des immer frostigeren Kalten Kriegs: Tito avancierte rasch zum wichtigen Verbündeten des Westens, was jugoslawischen Nachbarn als erste merkten, befand Jože Pirjevec:

    Ich glaube, es war der italienische Botschafter in Paris, der über den Konflikt mit Moskau schrieb, dass dieser für Italien wie ein Haupttreffer in der Lotterie sei, da er die sowjetische Grenze um 200 Kilometer Luftlinie von der italienischen Grenze entfernte.

    Aleš Bebler, Jugoslawiens Botschafter bei der UNO, hatte Ende 1948 Geheimkontakte zu Hector McNeal, Staatssekretär im britischen Außenministerium, angeknüpft, und sein Hilfsersuchen billigte Außenminister Bevin mit der lakonischen Bemerkung: 'Keep them a float' – haltet sie über Wasser!

    Der Westen hielt die Jugoslawen mit immer größerer Wirtschaftshilfe 'a float'. Und Jugoslawien wurde "westlicher", etwa durch den Übergang von kommunistischer Planwirtschaft zur radničko samoupravljanje, zur Arbeiter-Selbstverwaltung, die Tito als unumgängliche Abkehr von Sowjet-Praktiken bezeichnete:

    Die Konzeption der Kommunistischen Partei Jugoslawiens für den Aufbau und die Entwicklung Jugoslawiens als eines sozialistischen Landes stand anfangs unter dem Einfluss der sowjetischen Theorie und Praxis. Das war unter den damaligen Umständen verständlich und es wurde uns auch nicht von außen aufgezwungen. Wir haben uns freiwillig dafür entschieden, weil wir damals die Sowjetunion als Muster für den Aufbau des Sozialismus ansahen.

    Ende 1952 benannte sich die Partei in Bund der Kommunisten Jugoslawiens um, was auch eine namentliche Abkehr von Stalins Praktiken symbolisierte. Gewichtiger waren andere Neuerungen: Fort mit agrarischen Kolchosen, wirtschaftlicher Zentralplanung, Schlendrian in den Betrieben – befand Tito als Marktökonom und Parteireformer:

    Die Marktproduktion war hinsichtlich ihrer Qualität und ihres Assortiments zurückgeblieben. Die Produzenten kümmerten sich kaum um die Bedürfnisse des Markts und die Wünsche der Verbraucher. Die Partei muss sich vom Staatsapparat distanzieren, damit sie nicht Teil dieses Apparats würde, und sie muss das Staatseigentum den Produzenten selber aushändigen.

    Ab Herbst 1949 waren alle osteuropäischen Verträge mit Jugoslawien einseitig aufgekündigt worden, und Stalins Kommunistisches Informationsbüro (Kominform) nannte die Tito-Führung eine faschistische Clique. Das klang bedrohlich und zog den Westen noch mehr auf die jugoslawische Seite. Mittel dazu gab der Marschall-Plan der USA, den Osteuropa auf Stalins Geheiß ablehnen musste. In Jugoslawien hatte der Kreml-Dikator ausgespielt und die lukrativen Folgen rechnete der serbische Historiker Dragan Bogetić vor:

    Jugoslawien hat in dieser Periode des Streits mit dem Kominform Finanzhilfen im Umfang von drei bis 3,5 Milliarden Dollar bekommen, also kein einziges westeuropäisches Land erhielt aus dem Marschallplan eine größere Hilfe als Jugoslawien, sieben Staaten erhielten zusammen sogar weniger als Jugoslawien.

    Stalins ideologische und ökonomische Erpressungen hatten Titos Jugoslawien frei und wohlhabend gemacht. Die Wut des Moskowiters war enorm, und durch Osteuropa fegte eine Welle blutiger Schauprozesse, die vermeintlichen Titoisten galten - der letzte hatte Ende 1952 in Prag den ehemaligen Generalsekretär der Tschechoslowakischen KP, Rudolf Slánský, samt elf Mitangeklagten das Leben gekostet. Chefankläger Urválek nannte die Absicht dieses blindwütigen Rachefeldzugs:

    Die Tschechoslowakei wird kein zweites Jugoslawien werden.

    Was nach der unerbittlichen Logik des Kalten Kriegs wieder für Tito sprach. Aber das war längst nicht alles. 1948/49 hatten die West-Alliierten aus der Berlin-Blockade Stalins Arsenal erstmals kennen gelernt und ihm eine Abfuhr erteilt. Drei Jahre später drohte um Jugoslawien ein weit härterer Konflikt, wusste der slowenische Militärexperte Anton Bebler:

    Wir wissen, dass eine Streitmacht von rund einer Million Soldaten bereitstand, die von Sowjet-Marschall Žukov geführt werden sollte, einem der besten sowjetischen Heerführer, der damals zum Oberbefehlshaber bestimmt wurde. Er hat es später, bei einem Besuch in Jugoslawien, selber erzählt – dass er vier Armeen für einen Angriff unter sich hatte: die sowjetische Armee mit etwa 500.000 Soldaten, die Armeen Ungarns, Rumäniens und Bulgariens, dazu noch größere Einheiten aus Polen und der Tschechoslowakei.

    Der ungarische General Béla Király, damals Generalstabschef seines Landes, konnte sich noch Jahrzehnte später an die Detailpläne erinnern

    Aufgabe der Satelliten-Armeen war, die Grenzbefestigungen zu durchbrechen und möglichst große Territorialgewinne in Jugoslawien zu machen. Allerdings durfte keine dieser Armeen in Belgrad einmarschieren. Belgrad, die Hauptstadt von Titos Jugoslawien, wollten Stalins Truppen ganz allein einnehmen – als Befreier.

    Natürlich hatten die Jugoslawen mit ihren nur 400.000 Soldaten Angst vor der drohenden Feuerwalze aus dem Osten, aber die lähmte sie nicht: Fast ein Viertel seines Bruttosozialprodukts wendete Jugoslawien für die Verteidigung auf – entschlossen, sich so teuer wie möglich zu verkaufen.

    Der Kampf fand nicht statt, aus welchen Gründen auch immer. Wollte Stalin überhaupt Ernst machen? Der russische Historiker Leonid Gibjanski bezweifelt es:

    Stalins gesamte Politik bis zu seinem Tod war geprägt von schärfster konfrontativer Feindschaft zum Westen, aber das war reine Propaganda. Militärisch stand nichts dahinter, denn er fürchtete mehr als alles einen kriegerischen Konflikt.

    Stalin, am 5. März 1953 an einem Gehirnschlag verstorben, muss schon lange einen ganz persönlichen Hass gegen Tito gehegt haben, der ihn zuletzt zu Attentatsplänen greifen ließ. Details hat der slowenische Soziologe Rudi Rizman untersucht:

    Eine andere Idee war, ein Attentat auf einem diplomatischen Empfang in London zu verüben. Tito war im März 1953 zu Besuch, um die guten Beziehungen mit uns zu würdigen, und sobald er auf dem Botschaftsempfang erscheinen würde, sollte er erschossen werden.

    Und wie hatte sich Stalin das vorgestellt? Leonid Gibjanski fand in Moskauer Archiven den potentiellen Mörder:

    Im Ausland war er unter anderen Namen bekannt, aber tatsächlich handelte es sich um Josip Romualdovič Greguljevič, der damals als Botschafter Costa Ricas im Vatikan firmierte. Damit war er auch für Jugoslawien zuständig, und geplant war, ihm eine spezielle Waffe mitzugeben, die er im Ärmel verstecken konnte.

    Stalin war tot, Tito lebte und konnte fortan Canossa-Gänge der Sowjets in Serie erleben. Bereits im Juni 1953 baten die kleinlaut darum, doch wieder Botschafter auszutauschen. 1955 kam Stalin-Nachfolger Nikita Chruščev nach Belgrad, wo er sich massive Anklagen anhören musste und am Ende doch die Belgrader Deklaration signierte, die besser Belgrader Kapitulation heißen sollte. Und im Juni 1956 kam Tito ganz offiziell, da kurz zuvor als Präsident wiedergewählt, nach Moskau, wo er den Sowjets in fehlerfreiem Russisch unangenehme Wahrheiten sagte:

    Wenn ich von einem dauerhaften Fundament freundschaftlicher Beziehungen spreche, dann meine ich, dass die Prinzipien der Belgrader Deklaration eine wertvolle Garantie sind und die Möglichkeit geben, zwischen der Sowjetunion und Jugoslawien ein völliges Vertrauen wiederherzustellen. Damit erlangen sie eine weitere und internationale Bedeutung. Der Krieg darf kein Mittel mehr zur Lösung strittiger Fragen sein, auch nicht unter Staaten mit verschiedenen Systemen. Es muss eine Friedenspolitik der aktiven Koexistenz zwischen den Völkern geben.

    Postscriptum: Nach wochenlangem Todeskampf verstarb Tito am 4. Mai 1980. Für den Westen, speziell die USA blieb er bis zuletzt ein Verbündeter. Das musste 1977 Jimmy Carter – später 39. Präsident der USA und jüngst mit dem Friedens-Nobelpreis dekoriert – leidvoll erfahren. In den pre-election hearings musste er sich von dem weltweit renommierten Publizisten Joseph Kraft vorwerfen lassen, mit leichtfertigen Reden Präsident Tito gefährdet und die Russen animiert zu haben:

    Governor Carter, die nächste Weltkrise könnte in Jugoslawien ausbrechen. Präsident Tito ist alt und krank, in seinem Land zeigen sich Brüche. Es ist höchst wahrscheinlich, dass die Russen schon überlegen, wie sie nach Titos Tod Jugoslawien zurück ins sowjetische Lager zwingen können. Letzten Sonnabend sagten Sie, und ich zitiere: Ich würde für Jugoslawien keinen Krieg anfangen, selbst wenn die Russen Truppen schicken. Haben Sie mit diesem Statement nicht die Russen eingeladen, in Jugoslawien zu intervenieren? Und wäre es für Sie nicht klüger gewesen, nichts zu sagen und die Russen im Unklaren zu lassen? So hat es Präsident Ford getan, und vor ihm jeder Präsident seit Präsident Truman.