Freitag, 19. April 2024

Archiv


Zwischen Reformen und Rückständigkeit

Nordkorea, der "letzte stalinistische Staat" und das "abgeschottetste Land der Welt" wird Nordkorea oft genannt, und das wenige, was aus dem Inneren dieses Landes zu uns dringt, klingt meist deprimierend. Hungersnöte, Arbeitslager, eine in bizarrer Weise gleichgeschaltete Bevölkerung und eine Staatsführung, die regelmäßig drohend die Atomkeule schwingt. Surreal existierender Sozialismus. Erst in den letzten Monaten kommen aus dem wirtschaftlich bankrotten Nordkorea Nachrichten zaghafter Veränderung, insbesondere von ökonomischen Reformen. Es gibt - vor kurzem noch undenkbar - legale Privatmärkte und sogar Privatautos, und die Führung versucht ausländische Investoren zu ködern. Auf der anderen Seite ist Nordkoreanern nach wie vor privater Kontakt zu Ausländern streng verboten, dürfen und können die Menschen keine ausländischen Sender empfangen, und kürzlich sammelte die Regierung die 20.000 Handys, die es derweil sogar in Nordkorea gibt, kurzerhand wieder ein - ein beredtes Zeichen der Furcht der kontrollbesessenen Einheitspartei vor dem eigenen Volk. Mosaikhaft wie die Nachrichtenlage ist auch ein neues Buch mit 27 Einzelberichten über Nordkorea, das jetzt im Berliner Christoph Links Verlag erschienen ist.

Von Sandra Pfister | 30.08.2004
    "My Country is a beautiful paradise...":
    Reiche Früchte duften lieblich,
    in der Hitze der Maschinen erklingt ein fröhliches Lied.
    Mein blühendes Land ist ein wunderschönes Paradies.
    Jeder hier arbeitet aus ganzem Herzen, mit glühender Hingabe.
    Jeder hier arbeitet mit begeisterter Loyalität!


    So zumindest sieht die Idealvorstellung der Kommunistischen Partei Nordkoreas aus, die dieses Lied Mitte der 70er Jahre zu ihrem 6. Parteitag komponieren ließ. Blühende Landschaften? Getreide und reichliche Früchte? Wer an Nordkorea denkt, hat in der Regel andere Bilder im Kopf: Hungernde Kinder, Missernten, Menschen unter der Knute ihres Großen Führers Kim Jong Il, dessen sich abschottendes Regime mit seinem Streit um Atomwaffen die Welt in Angst versetzt.

    22 Millionen Menschen können nicht ihr ganzes Leben damit befasst sein, dem Großen und dem Geliebten Führer zu huldigen, Raketen mit Nuklearsprengköpfen zu bauen oder Kräuter zu essen.

    Schreibt hingegen der Herausgeber Christoph Moeskes in der Einleitung. Und damit umreißt er das Ziel seines Buches: Ihm geht es darum, den Alltag in Nordkorea einzufangen, denn der deckt sich seiner Meinung nach nicht unbedingt mit dem staatlich vermittelten Bild. Diesen Anspruch, das sei gleich vorangeschickt, kann der Herausgeber nur in Teilen einlösen. Die meisten der von ihm versammelten Autoren sehen genau das, was das Regime sie sehen lässt. Doch die Touristen, Journalisten, Diplomaten, Geschäftsleute und humanitären Helfer entwickeln durchaus einen scharfen Blick dafür, was ihnen vorenthalten oder vorgespiegelt werden soll. So erinnert sich der Herausgeber Christoph Moeskes an seine erste Nordkorea-Reise:

    Es hat mich verstört, weil ich mir eigentlich die ganze Zeit vorgekommen bin, als ob ich im Film wär, und zwar im falschen. Die Inszenierung, die die nordkoreanische Reiseleitung an den Tag legt, ist natürlich sehr, sehr groß. Man bekommt nur die Schokoladenseiten des Landes zu sehen. Die Prachtbauten in der Hauptstadt Pjöngjang. Und man darf natürlich auch gar keinen Schritt alleine tun.

    Im falschen Film sein, seinen Augen nicht trauen können: Dieses Gefühl beschleicht fast alle 27 Besucher Nordkoreas, die der Berliner Autor Christoph Moeskes in seinem Sammelband zu Wort kommen lässt. Ausländer in Nordkorea werden gelenkt, Kontakt haben sie nur mit ausgewählten Einheimischen. Und die hüten sich, Kritik an ihrem Regime zu üben - oder sind tatsächlich unkritisch, so der Eindruck von Mike Bratzke, vier Jahre für die Hilfsorganisation Cap Anamur in Nordkorea:

    Generell kann ich sagen, innerhalb von vier Jahren ist mir das überhaupt nicht untergekommen, irgend eine Opposition oder ein Wehren gegen die herrschenden Umstände (...). Die Menschen arrangieren sich viel lieber mit dem Leben, was um sie herum passiert, und sind meines Erachtens nach sehr unpolitisch. Sie bemühen sich tatsächlich nur, den nächsten Tag zu erleben, und wie früher bei uns, sehr viel Gottvertrauen, sie hoffen, dass das, was um sie herum passiert, einschließlich die Politik, richtig ist.

    Die Reiserouten der wenigen westlichen Besucher des Landes ähneln sich. Die meiste Zeit halten sich Besucher in und um Pjöngjang herum auf - dem Schaufenster des Landes, das sozialistischen Charme versprüht. Der Fernsehjournalist Bernd Girrbach schildert die Fahrt vom Flughafen in die Stadt:

    Die ersten Eindrücke auf dem Weg in die Stadt treffen wie Blitze. Erntebrigaden auf dem Feld, beschallt von einem Propagandawagen mit Megaphonen. Parolen preisen Kim Jong Il als "heiliges Gehirn". Dann Pjöngjang - die Bilder versetzen mich vollends zurück in eine versunkene Ära. Achtspurige Straßen zum Heldenfriedhof, menschenleer. Gigantische Plattenbauten, die Statue Kim Il Sungs, beschallt von Armeechören. Alles scheint wie eine Filmkulisse.
    Eine Kulisse: Für Besucher lässt die nordkoreanische Staatsführung Theater spielen, das ist ein Tenor dieses Buches, sie präsentiert ihnen einen Ausschnitt der Wirklichkeit, den sie nicht hinterfragen können. Um so erschreckender ist es, wie armselig selbst dieser Ausschnitt anmutet. Viele von ihnen berichten von den Folgen der schlimmsten Hungersnot, die jemals in Nordkorea grassierte, vier Jahre lang, von 1994 bis 1998. Zwei bis drei Millionen Menschen starben, so genau kennt die Zahlen niemand. Der Staat war ganz offensichtlich nicht mehr in der Lage, seine Bevölkerung zu ernähren, doch erst 1995 bat die nordkoreanische Regierung die Welt um Hilfe. Es war das erste Mal, und die Bedeutung lässt sich nur ermessen, wenn man den Stolz der Nordkoreaner kennt und weiß, wie sehr ihre Staatsführung darauf bedacht ist, niemals das Gesicht zu verlieren.

    Was die meisten Autoren zu Gesicht bekommen, entspringt dem Selbsterhaltungstrieb: einfacher Landbau, Gemüsezucht auf den Balkons, und auch Balkonhühner und -hasen werden gehalten als Schlachtvieh. Autoren, die nicht nur als Touristen im Lande sind, entdecken auch hier und da Hinweise auf Mangelernährung - immer noch. Pjöngjanger seien Pragmatiker, schreibt Günther Unterbeck, ein Koreanist, der seit über 30 Jahren fast durchgehend in Pjöngjang lebt. So gäben die Schilder in den Zoos auch Auskunft darüber, ob sich beispielsweise Zebrafleisch zum Verzehr eigne.

    Die Schwerindustrie, von der bis in die 70er Jahre viele Menschen leben konnten, scheint nur noch ein Schatten ihrer selbst zu sein. Der wirtschaftliche Bankrott ist eine Folge von 1989: Nach Perestroika und Glasnost forderte die Sowjetunion das geliehene Geld ein - und strich die Entwicklungshilfe. Alles, was industriell hergestellt werden muss, ist seitdem im Lande Mangelware - selbst Fahrräder.

    Auffallend sind die Massen von Menschen, die zu Fuß auf der Straße unterwegs sind, alle in der Hoffnung, von einem der wenigen Autos mitgenommen zu werden. Die Ladeflächen der Lastwagen, denen wir begegnen, sind bis auf den letzten Platz mit Menschen gefüllt, Menschen, die mit stoischen Gesichtern und kleinen Fetzen Plastikfolie dem Regen trotzen.

    Schreibt Eckart Dege, Professor für Geographie, Nordkorea-Reisender und Nordkorea-Experte. Der Eindruck menschenleerer Autobahnen, auf denen Menschen mit Handkarren unterwegs sind, hat sich fast allen Autoren dieses Buches eingeprägt, auch dem Herausgeber Christoph Moeskes:

    Geschockt hat mich allerdings, wie elend der Verkehr ist, links und rechts laufen dann die Leute zu Fuß mit schweren Bündeln auf dem Rücken, oder manche sind dann eben auch zusammen gekauert auf einem LKW, der dann durch dieses Nichts von Verkehr und dieses Wenige von Landschaft flitzt, und das erscheint eigentlich wie ein Irrlicht aus einer vergangenen Zeit. Wenn man irgendwie eine Draufsicht von Nordkorea haben kann, dann ist das, glaube ich, der Verkehr, und der Verkehr spiegelt, wenn überhaupt irgend etwas, dann doch die Verhältnisse des Landes wieder.

    Wie sind die Verhältnisse? Die jüngst in deutscher Sprache publizierten Bücher zu Nordkorea können darauf kaum Antworten geben. Sie liefern Bestandsaufnahmen aus einer politologisch-geostrategischen Perspektive, historische Aufarbeitungen, die aber "blutarm" wirken. Da wird Nordkorea analysiert unter dem Aspekt der Rüstungskontrolle - vom Leben der Menschen dort erfahren wir wenig.
    Christoph Moeskes nun hat 27 Einzeleindrücke zusammengetragen: Der Zirkel der Autoren umfasst die reisende Journalistin ebenso wie den Welthungerhilfe-Mitarbeiter und den Experimentalphysiker. Die Beiträge sind notgedrungen disparat und auch in ihrer sprachlichen Qualität sehr unterschiedlich: mal hölzern, mal brillant. Die Autoren ziehen sich bewusst auf eine subjektive Schilderung zurück; das ist die Stärke und die Schwäche des Buches. So puzzlehaft das Bild aber ist, das dabei entsteht: Es ist der Versuch, Eindrücke aus einem Land zu vermitteln, dessen Regime sich bewusst nicht in die Karten schauen lässt.

    Welcher Stolz dahinter steckt, welche Angst davor, vor der Welt als Verlierer dazustehen, zeigte sich erneut im April dieses Jahres: Als ein mit Chemikalien beladener Zugwaggon explodierte und dabei Hunderte von Menschen verletzt wurden und weit über hundert Menschen starben, dauerte es mehrere Tage, bis das Nordkoreanische Rote Kreuz das Ausland um Hilfe bat. Zehntausende von Menschen musste evakuiert werden, die Krankenhäuser quollen über vor Verletzten, die nur unzureichend versorgt werden konnten. Mike Bratzke, vier Jahre lang als Mitarbeiter von Cap Anamur im Land, schildert die Zustände in nordkoreanischen Krankenhäusern:

    Es ist schon sehr erschütternd, wenn man sieht: Gebäude, die nennen sich Krankenhaus, die haben keinen Strom, die haben kein Wasser, die müssen sich mit Kräutergärten behelfen, um irgend eine Art von Medizin herzustellen, Antibiotika gibt es kaum, muss von den Leuten teilweise selbst mitgebracht werden, ist vom Munde abgespart, (...) man findet auch abgelaufene Medikamentenpackungen in den Geschäften der Hauptstadt, die aus anderen Nationen dort abgeschoben oder dort eingekauft werden für billiges Geld. Die Zustände sind erschreckend, auch natürlich sehr fatal, weil ein kranker Mensch, der in solche Umgebung verfrachtet wird, noch viel schlechter drauf kommt.

    Aber: Nordkorea öffnet sich, wenn auch nur millimeterweise, auch das ist in einigen der Beiträgen zu lesen, die in den letzten beiden Jahren entstanden sind. Die abgeschirmten Besucher machen das an alltäglichen Beobachtungen fest: An Holzbuden werden Softdrinks verkauft - dabei waren ein paar Monate vorher nicht mal private Bauernmärkte legal. Bauern dürfen mittlerweile sogar ihren kleinen Privatgarten pflegen, statt nur für das Kollektiv zu wirtschaften. Und gelegentlich wurden sogar Kinder in Schuluniform gesichtet, die Baseballkappen mit Nike-Logo trugen. Das wird sie aller Voraussicht nicht davon abhalten, auch in Zukunft ihren toten Führer Kim Jong Il zu verherrlichen: "Es gibt viele Länder auf dieser Welt, das beste von ihnen ist mein Land, an dessen Spitze der große Führer steht."

    "Nordkorea. Einblicke in ein rätselhaftes Land". Herausgegeben von Christoph Moeskes im Christoph Links Verlag Berlin. 239 Seiten, 15 Euro und 90 Cent.