Nationale Ikone

30.11.2006
In Tschechien gilt Božena Němcová als nationale Ikone und größte einheimische Dichterin, in Deutschland ist sie fast unbekannt. In dem Band sind 65 Briefe der Schriftstellerin erschienen, die meisten davon wurden erstmals ins Deutsche übersetzt.
In Tschechien gilt sie als nationale Ikone und größte einheimische Dichterin, in Deutschland ist sie fast unbekannt: Božena Němcová (1820-1862), geboren zu Wien unter dem Namen Barbara Novotná im Haus einer Magd und eines Kutschers. (Manche Quellen vermuten eine adelige Herkunft.) Der Verwalter eines Schlosses in Ostböhmen lehrt sie als Kind Begeisterung für die (deutsche) Sprache; von jenem Schloss wird sie später mehrfach berichten, und diese Berichte - das meint der Dichter Max Brod - sollen seinen Freund Franz Kafka 1922 zu dem Roman "Das Schloß" inspiriert haben.

Mit 17 heiratet Barbara einen Finanzbeamten, Josef Němec. Němec zieht von einem Dienstort zum anderen, quer durch Böhmen, gar bis nach Ungarn, und Barbara (und ihre Kinder) ziehen mit ihm. Němec, der k.u.k.-Beamte, ist tschechischer Patriot (nach der Revolution von 1848 wird er verfolgt und angeklagt), die Obsession für die nationale Sache erfasst auch seine Frau.

Anfang der 1840er gelangt sie in Prag in den Kreis der jungen tschechischen Elite. Sie verbrennt ihre deutsch geschriebenen Prosaversuche und publiziert ein erstes Gedicht in der zweiten Sprache, einen glühend patriotischen Appell, "Ženám Českým" ("An die tschechischen Frauen"). Gezeichnet: Božena Němcová. Ab 1845 hat sie Erfolg mit Sammlungen von Volksmärchen und Sagen.

Berühmt wird die Erzählerin mit einem 1855 gedruckten Werk, "Babička", "Die Großmutter". In Zeiten des Unglücks sich selber zum Trost geschrieben, birgt das Buch (nach Max Brod "ein idyllischer Roman von herzenszarter Einfachheit") die geschönten Erinnerungen an eine heile Kindheitswelt.

Sieben Jahre nach "Babička" stirbt Božena Němcová in Prag erst 42-jährig an Krebs. Tausende kommen zu ihrem Begräbnis; sie erleben die Geburt eines doppelten Mythos’: Božena, die Leidende, Božena, die Kämpferin. Als Verfasserin einer rückwärts gewandten Utopie von der "guten alten Zeit" wird sie (wie ihre "Großmutter") zur Identifikationsfigur. Das Buch erlebt in seiner Sprache über 350 Auflagen - das angeblich populärste Erzählwerk der tschechischen Literatur.

Romantisch ist die Prosa der Božena Němcová, biedermeierlich verspielt, bisweilen wirkt sie kitschig. Ganz anders zeigt sich die Autorin in ihrer Korrespondenz. Unzählige Briefe hat sie geschrieben – an die Kinder, den Mann, an Freundinnen, Verleger und Weggefährten –, und diese Briefe sind oft literarische Kunststücke. Hier schreibt sie sehr direkt, mit verblüffender Offenheit. Sie entwirft dramatische Szenen einer zerbrechenden Ehe, sie bestürmt wechselnde Liebhaber, sie schildert die häusliche Not und am Ende die Krankheit. In diesen Briefen zeigt sich Božena Němcová so, wie sie war: eine moderne Frau, deren Lebensentwürfe nicht in die Zeit passten. Von einem Teil der Gesellschaft wurde sie zu Lebzeiten dafür gestraft - mit Liebesentzug.

Ab 1900 verdrängte der Glanz der Korrespondenz den des epischen Werks. Im Rahmen ihrer "Tschechischen Bibliothek" (einer 33 Bände umfassenden Sammlung, die die Aufmerksamkeit auf die Literatur unseres östlichen Nachbarn lenken will) hat die Deutsche Verlags-Anstalt jetzt erstmals eine Auswahl ins Deutsche gebracht, ergänzt um mehrere Essays. Der Band versammelt 65 Briefe; die meisten wurden zum ersten Mal übersetzt.

Besonders schön sind ihre späten Briefe; nach Ansicht von Experten hätten sie die Vorstufe einer fiktiven Prosa neuer Art werden können. Eine Kostprobe jener neuen Prosa gibt uns Božena Němcová in ihrem letzten bekannten Text, einem Brief an einen Freund ("Lieber Vojtěch!"), dreimal begonnen, dreimal abgebrochen. (Die Arbeit an den Entwürfen wurde 2005 zur Grundlage eines Kinofilms, "Durch diese Nacht sehe ich keinen einzigen Stern", mit Corinna Harfouch in der Hauptrolle.)

Dieses Fragment vom 21. November 1861 ist ein 25 Seiten starkes Dokument der Tragik, ihr Report über eine letzte missglückte Flucht: "...Als ich aus Prag wegfuhr, war ich entschlossen, nie mehr zu meinem Mann zurückzukehren, denn ich habe im letzten Monat so viel von ihm erdulden müssen. Kaum war er morgens aufgestanden, fing er an zu fluchen, und er fluchte und zeterte, bis er wegging, und es war ihm egal, ob die Magd da war oder der Diener. Wenn er in der Administration gefragt wurde, warum ich nichts schreibe, sagte er, die wird ihr Lebtag nichts mehr schreiben, sie ist blöd, gehört ins Irrenhaus. In den Wirtshäusern hat er mich verleumdet. Wenn er nach Hause kam, ging es weiter. ‚Du Luder, du krepierst eines Tages hinter einem Zaun, auf dich wird man nicht einmal spucken, wenn du wenigstens Zündhölzer verkaufen würdest!’ – und so ging es Tag für Tag." Zwei Monate nach der Niederschrift dieser Zeilen ist sie tot.

Kafka liest Němcovás Prosa (die "Babička") vier Jahrzehnte später im Gymnasium. Noch später wird er die "Sprachmusik" der Tschechin loben, die Leidenschaft und Lieblichkeit, ihre hellsichtige Klugheit. Und über Korrespondenzen in Buchform notiert er 1917, er habe von jenen, die auf tschechisch vorliegen, eben die beste gelesen, "eine Briefwechselauswahl der Božena Němcová, unerschöpflich für Menschenerkenntnis".

Rezensiert von Uwe Stolzmann

Božena Němcová: Mich zwingt nichts als die Liebe.
Briefe. Aus dem Tschechischen von Kristina Kallert. Ausgewählt von Eckhard Thiele. Mit Beiträgen von Jaroslava Janácková, Václav Maidl/Maindl und Hans Dieter Zimmermann.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2006. 432 Seiten, 19,90 Euro.