Colson Whitehead: "Die Nickel Boys"

Horrorkabinett des Rassismus

06:19 Minuten
Eine Combo zeigt das Buchcover "Die Nickel Boys" neben einem Porträt von Colson Whitehead.
Colson Whitehead ist erst der vierte Schriftsteller, der den Pulitzer-Preis zum zweiten Mal erhält − für seinen 2019 erschienenen Roman "Die Nickel Boys". © Hanser Verlag / imago images / Leemage / Mollona
Von Carsten Hueck · 01.06.2019
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Der Roman "Die Nickel Boys" des Pulitzer-Preisträgers Colson Whitehead blickt in eine Besserungsanstalt im Florida der frühen 1960er-Jahre. Der junge Schwarze Elwood gerät in eine staatliche Hölle aus Rassismus, Gewalt und Willkür.
Vor zwei Jahren gewann Colson Whitehead mit seinem Roman "Underground Railroad" sowohl den Pulitzer Preis wie auch den National Book Award. Die deutsche Kritik war geteilter Meinung über das Buch, in dem die abenteuerliche Flucht einer schwarzen Sklavin – mithilfe auch einer märchenhaften Eisenbahn – erzählt wird.
In "Die Nickel Boys", seinem neuen, erst im Juli in den USA erschienenen Roman, gibt es nichts Märchenhaftes. Whitehead schildert jüngste amerikanische Vergangenheit, deren Ausläufer in der Gegenwart noch spürbar sind: Als in Florida auf dem Gelände einer ehemaligen Besserungsanstalt ein Büroviertel entstehen soll, stoßen Archäologiestudenten bei Grabungen auf den geheimen Friedhof jener "Industrieschule für Jungen", die nach einem ihrer Leiter nur "Nickel Academy" genannt wurde.

Rekonstruktion der schrecklichen Zustände

"Jahrzehnte nachdem man den ersten Jungen in einen Kartoffelsack verschnürt und in eine Grube versenkt hatte", wird so die Wahrheit über die Zustände in der Anstalt rekonstruierbar. Colson Whitehead erzählt von ihnen als auktorialer Erzähler. Knapp und kräftig ist seine Sprache, die Dialoge sind trocken und vielsagend, die Bilder verhalten poetisch und derb treffend. Aus all dem entsteht ein Rhythmus, der das ganze Buch zu einem zurückgenommenen, dann wieder expressiven Blues macht.
Anfang der 1960er-Jahre freunden sich zwei schwarze Jungen im "Nickel" an. Es gelten in den USA noch die diskriminierenden Rassengesetze, während die Civil Rights Movement tapfer gegen die allgemeine Meinung kämpft, dass Weiße die besseren Menschen seien.
Elwood, der bei seiner Großmutter lebt, ist klug, arbeitet gewissenhaft in einem kleinen Laden und hat vor, aufs College zu gehen. Er begeistert sich für die Reden von Martin Luther King, Comics, das "Life Magazin" und wird von seinem High-School-Lehrer mit den Büchern von James Baldwin bekannt gemacht. Eigentlich ist er für das "Nickel", wo ursprünglich Underdogs und kriminelle Jugendliche "gebessert" werden sollten, eine komplette Fehlbesetzung.

Kein Verfahren, keine Verteidigung, keine Hilfe

Elwood landet dort, weil er beim Trampen ahnungslos in ein geklautes Auto gestiegen ist. Es gibt kein Verfahren, keine Verteidigung, der Anwalt verschwindet mit dem Geld der Großmutter. Es gibt einfach keine Hilfe.
In der Anstalt, einem Horrorkabinett, in dem sich die "white supremacy" austoben darf, werden minderjährige Schwarze vom banal-bizarren Personal ausgebeutet, geschlagen, vergewaltigt, umgebracht. Der Autor schildert einen Raum, in dem wohlmeinende Mörder, Sadisten und Pädophile nicht die Ausnahme, sondern die normative Kraft des Faktischen verkörpern. Ihr Handeln entspringt der Logik des Systems. Während sein Freund Turner versucht, nicht aufzufallen oder anzuecken, verhält sich Elwood gemäß seinen Idealen – er will Unrecht verhindern oder zumindest anprangern, seine Würde bewahren, mit schrecklichen Folgen.
Die Selbstverständlichkeit, mit der dieser Roman die Chancenlosigkeit von Schwarzen im rassistischen System dieser Zeit darstellt, verschlägt einem den Atem. Dabei klagt Whitehead nicht an. Er erzählt, er singt, er schaut hin.

Colson Whitehead: "Die Nickel Boys". Roman
Aus dem Englischen übersetzt von Henning Ahrens
Hanser Verlag, München 2019
222 Seiten, 23 Euro

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