Freitag, 29. März 2024

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Briefe an Beethoven
"Lieber Ludwig, welch ein großer Irrtum!"

"Ich habe es bewundert, aber nicht geliebt", gesteht Matthias Kirschnereit in seinem Brief an Beethoven in Bezug auf dessen fünftes Klavierkonzert. Doch inzwischen hat der Pianist seine Haltung dazu verändert: Er entdecke ständig Neues und staune über die Schönheit des Werks.

Von Matthias Kirschnereit | 11.05.2020
Ein ganz in schwarz gekleideter Mann sitzt im Schneidersitz auf einem Holzboden und blickt zur Seite. Seine Hände liegen locker auf seinem linken Bein.
Der Pianist Matthias Kirschnereit lehrt an der Musikhochschule in Rostock (Maike Helbig)
Verehrter, lieber Ludwig van Beethoven!
Gestatten Sie mir heute diesen Brief als Zeichen meiner Dankbarkeit und meiner tiefen Verehrung. Sie werden im Laufe der vergangenen Zeiten unzählige Ehrerbietungen und Lobeshymnen erfahren haben. Gewiss kann ich diesen nichts Substantielles hinzufügen. Doch die seit meiner Kindheit andauernde Beschäftigung mit Ihrem Werk bewegt und ergreift mich immer wieder aufs Neue.
Während ich dieses schreibe, sitze ich an meinem Flügel, die Morgensonne scheint durchs Fenster, und auf dem Notenpult steht die Partitur Ihres fünften Klavierkonzertes. Ich hätte es gestern öffentlich spielen sollen, doch das Konzert wurde aufgrund der zur Zeit in Europa und der ganzen Welt wütenden Corona-Epidemie abgesagt. So bleibt mir im Moment einzig die Beschäftigung mit Ihrer Partitur, verehrter Herr van Beethoven, und tatsächlich ist diese Auseinandersetzung das Schönste! Es eröffnen sich fortlaufend neue Räume, neue Einsichten.
Ich spiele dieses Werk seit langem, und trotzdem weiß ich nicht, ob ich ihm je optimal gerecht wurde. Ich entdecke ständig Neues, so dass ich mich in einem permanenten Entwicklungsprozess zu befinden scheine. Und je älter ich werde, desto mehr komme ich aus dem Staunen über die Schönheit und Größe dieses Werkes nicht heraus. Aber, das möchte ich Ihnen verraten, dies war bei mir nicht immer so. Als ich vor einigen Jahren die 21 Klavierkonzerte Ihres Kollegen Wolfgang Amadeus Mozart studierte und aufnahm, und mich dabei vollkommen in dessen unfassbaren Einfallsreichtum verliebte, da fehlte mir gerade bei einem Werk wie Ihrem fünften Klavierkonzert das Melodische, die Leichtigkeit. Ich habe es bewundert, aber nicht geliebt. Ihr Ringen um das Werk schien mir allzu präsent. Und so war es mir weniger "menschlich".
Ach, welch ein großer Irrtum!
Spricht nicht aus jedem Takte Ihrer Musik eine tiefe Menschlichkeit? Sie schrieben den für mich schönsten Satz, den ein Schöpfer seinem Werk voranstellen kann, über Ihre Missa Solemnis: "Von Herzen, möge es wieder zu Herzen gehen!"
Kaum bekannte Beethoven-Klavierstücke
Ich möchte Ihnen eine kleine Geschichte erzählen: Als Geste zu Ihrem Jubiläumsjahr habe ich mir erlaubt, Klavierstücke von Ihnen, die heutzutage weitgehend unbekannt sind, aufzunehmen. Ja, und auch hier, vielleicht gerade hier, begegne ich Ihrem unendlichen Einfallsreichtum, Ihrer Warmherzigkeit, Ihrem Humor. Ich hoffe, dass Sie mir nicht gram sind, denn einen großen Teil dieser Klavierstücke haben Sie zu Lebzeiten nicht veröffentlicht. Doch haben Sie einige dieser Werke schließlich mehrfach überarbeitet, und Sie hätten diese Kompositionen, die Ihrerseits mitunter als spontane, herzliche Geste an Freunde gedacht waren, auch vernichten können - wie dies zum Beispiel Johannes Brahms später tat. Ich liebe diese kleinen, so spannenden Momentaufnahmen aus Ihrer Feder, und die Arbeit daran hat mir die größte Freude bereitet.
Ja, mich ergreift Ihre Musik, mich erfüllt die ihr innewohnende Kraft, der Stolz, der Glaube an das Gute. Auch heute würden Sie sich energisch gegen Selbstherrlichkeit und Respektlosigkeit wenden, stets die Würde des Menschen im Auge behalten. Ich mag das Wort "Titan" nicht, mit dem Sie aller Orten tituliert werden. Damit ist für mich eine gewisse Unnahbarkeit verbunden. Nein, Sie wollen mit Ihrer Musik ALLE Menschen erreichen. Seit vielen Jahren ist Ihre Vertonung der "Ode an die Freude" die Hymne Europas, welches für Weltoffenheit, Toleranz und gegenseitigen Respekt steht.
Doch merke ich, dass ich gerade allzu pathetisch werde. Nehmen Sie den aufrichtigen Dank eines Ihrer zahllosen Interpreten! Kürzlich gab ich ein Interview im Radio, und auf die Frage, was mich mit ihnen verbinde, antwortete ich lapidar: "Die Frisur!".
Hochachtungsvoll,
Ihr
Matthias Kirschnereit