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Gerd Hankel: Die Leipziger Prozesse - Deutsche Kriegsverbrechen und ihre strafrechtliche Verfolgung nach dem Ersten Weltkrieg

Eine historiographische Aufarbeitung der Kriegs- und Humanitätsverbrechen während des Ersten Weltkriegs hat bis heute nicht stattgefunden. Der Unterschied zum Zweiten Weltkrieg ist angesichts der Überfülle der Historiographie zu den NS-Verbrechen augenfällig. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass die wissenschaftliche, aber oftmals auch die politisch-moralische Aufarbeitung den zeitlichen Abstand von mindestens einer Generation braucht. Die ersten großen wissenschaftlichen Arbeiten über NS-Verbrechen erschienen, gestützt damals noch in erster Linie auf die Dokumente des Nürnberger Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher, in den sechziger Jahren, also mehr als zwanzig Jahre, nachdem die Verbrechen begangen wurden. Im zweiten Jahrzehnt nach dem Ersten Weltkrieg regierten in Deutschland bereits die Nazis.

Horst Meier | 23.06.2003
    Eine historiographische Aufarbeitung der Kriegs- und Humanitätsverbrechen während des Ersten Weltkriegs hat bis heute nicht stattgefunden. Der Unterschied zum Zweiten Weltkrieg ist angesichts der Überfülle der Historiographie zu den NS-Verbrechen augenfällig. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass die wissenschaftliche, aber oftmals auch die politisch-moralische Aufarbeitung den zeitlichen Abstand von mindestens einer Generation braucht. Die ersten großen wissenschaftlichen Arbeiten über NS-Verbrechen erschienen, gestützt damals noch in erster Linie auf die Dokumente des Nürnberger Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher, in den sechziger Jahren, also mehr als zwanzig Jahre, nachdem die Verbrechen begangen wurden. Im zweiten Jahrzehnt nach dem Ersten Weltkrieg regierten in Deutschland bereits die Nazis.

    Darauf machte der Wiener Historiker Winfried R. Garscha in einem Vortrag vor der "German Studies Association" in Atlanta aufmerksam. Das nun anzuzeigende Buch kann und will diese Lücke nicht schließen. Immerhin aber macht es auf den weitgehend vergessenen Tatbestand aufmerksam, dass es mit den Leipziger Prozessen einen Versuch gab, deutsche Kriegsverbrechen im Ersten Weltkrieg strafrechtlich zu verfolgen, und es analysiert, warum dieser Versuch kläglich gescheitert ist. Die Rede ist von Gerd Hankels Studie "Die Leipziger Prozesse. Deutsche Kriegsverbrechen und ihre strafrechtliche Verfolgung nach dem Ersten Weltkrieg", die jetzt in der Hamburger Edition erschienen ist. "Besiegtenjustiz" hat Horst Meier seine Rezension überschrieben.

    Was können wir aus Versailles und Leipzig lernen? Zuallererst: Die Vereinten Nationen dürfen nicht noch einmal darauf vertrauen, dass die Deutschen ihren Kriegsverbrechern gegenüber Gerechtigkeit walten lassen. In ihren Augen sind das Helden.

    Als die "United Nations War Crimes Commission" 1942 damit begann, die NS-Verbrechen zu erfassen und erste Entwürfe für eine internationale Strafgerichtsbarkeit vorlegte, wurde deren Notwendigkeit mit dem Scheitern der Leipziger Prozesse begründet. In der Tat, die Kriegsverbrecherprozesse vor dem Reichsgericht in Leipzig, hierzulande weitgehend unbekannt, können als ein Musterbeispiel dafür gelten, wie man es nicht machen soll: Die Statistik dieser Justiz in eigener Sache spricht Bände. Auf der ersten Auslieferungsliste standen an die 900 Personen. Doch nachdem die Alliierten sich darauf eingelassen hatten, auf deren Auslieferung zu verzichten und deutsche Juristen, oftmals Reserveoffiziere und Weltkriegsteilnehmer, sich der Sache annahmen, war der Rest eine "Frage der Ehre": Es wurden überhaupt nur siebzehn Soldaten in zwölf Verfahren angeklagt. Und die Prozesse, die von Januar 1921 bis November 1922 in Leipzig stattfanden, waren derart, dass Frankreich und Belgien ihre Prozessbeobachter zurückberiefen und jede Rechtshilfe einstellten: Acht Angeklagte wurden zu milden Freiheitsstrafen zwischen sechs Monaten und fünf Jahren verurteilt, neun freigesprochen. Über 1.700 Verfahren aber wurden bis 1927 eingestellt.

    Eine bittere Bilanz aus Sicht der Alliierten. Sie mussten erkennen, dass zur "Revision von Versailles" die teils offene, teils stille, jedenfalls hinhaltende Sabotage der Leipziger Prozesse gehörte. Ein ehemaliger Reichsminister der Justiz nahm in seinen Lebenserinnerungen kein Blatt vor den Mund:

    Eine schwere Belastung des Reichsgerichts waren die Kriegsverbrecherprozesse. Sie mussten während meiner Amtszeit zunächst dilatorisch behandelt werden. (...) Als ... der oberste Rat (der Alliierten) sein Désintéressement an dem weiteren Verlauf der Kriegsverbrecherprozesse deutlich zu erkennen gab, fiel für uns jeder Grund zu einer weiteren dilatorischen Behandlung fort. Nun wurden die zahlreichen auf haltlose Beschuldigungen gegründeten Verfahren ... eingestellt.

    Dies schrieb kein Republikverächter, sondern der sozialdemokratische Rechtspolitiker und Philosoph Gustav Radbruch. Es offenbart, dass für das Scheitern der Leipziger Prozesse nicht allein nationalistisch-völkische Kreise, nicht allein verstockte Militaristen verantwortlich waren. Natürlich gab es "haltlose Beschuldigungen". Sie beruhten zum Beispiel auf Personenverwechslungen, denn Kriegswirren machen eine nachträgliche Aufklärung einzelner Situationen oft unmöglich. Trotzdem, in vielen Fällen standen schwerwiegende Vorwürfe zur Debatte, die durch Dokumente und Zeugen gestützt wurden: Erschießung von Kriegsgefangenen, Plünderungen und Brandschatzungen, die Versenkung von Lazarett- und Handelsschiffen durch U-Boote.

    Für seine Studie über die Leipziger Prozesse konnte Gerd Hankel die Akten des Reichsgerichts und der Anklagebehörde systematisch auswerten. Diese waren nach dem Untergang der DDR in die Bestände des Bundesarchivs gelangt und erstmals der freien Forschung zugänglich geworden. Nicht allein auf deutscher, auch auf alliierter Seite gab es Kriegsverbrechen: zum Beispiel die systematische Tötung Verwundeter durch so genannte "nettoyeurs" der französischen Armee, die überrannte Schützengräben "säuberten". Doch die Untaten der deutschen Streitkräfte gingen darüber hinaus und trafen auch Zivilisten:

    Am Nachmittag des 7. Mai 1915 versenkte das deutsche U-Boot U 20 unweit der Südwestküste Irlands den britischen Passagierdampfer Lusitania, mit 31 500 BRT der größte Passagierdampfer seiner Zeit. Von den nicht ganz 2.000 Menschen an Bord kamen 1.198 ums Leben. ... Während in der deutschen Presse die Versenkung als "Heldentat unserer Marine" gefeiert ... wurde, brach im Ausland ein Sturm der Entrüstung los. Man sprach angesichts der warnungslosen Versenkung ... von einem Akt der Barbarei, von der heimtückischsten und schrecklichsten Mordtat, die je auf hoher See begangen wurde.

    Die Art und Weise, wie deutsche Truppen den Landkrieg führten, tat ein übriges, um das Bestrafungsverlangen der Alliierten anzustacheln: Vor allem in Belgien, das unter Bruch seiner Neutralität überfallen worden war, wurden zahlreiche Bürger willkürlich getötet. Die Behauptung der deutschen Armeeführung, "maßlos verhetzte" Zivilisten hätten als Freischärler in die Kämpfe eingegriffen und deutsche Soldaten heimtückisch umgebracht, wurde nie belegt. Dagegen geht aus belgischen Quellen hervor, dass an die fünfeinhalbtausend Zivilisten dem Wüten deutscher Soldaten zum Opfer fielen.

    So kam es, dass sich Deutschland im Versailler Friedensvertrag gemäß Artikel 228 und 229 verpflichten musste, alle Personen auszuliefern, die in Verdacht standen, "sich gegen die Gesetze und Gebräuche des Krieges vergangen zu haben". Eine ungewöhnliche Strafregelung, denn "ewiges Vergessen und Amnestie" war Jahrhunderte lang ein selbstverständlicher Bestandteil aller Friedensverträge: "Dass mit dem Friedensschlusse auch die Amnestie verbunden sei, liegt schon im Begriff desselben", formulierte Kant in seiner Metaphysik der Sitten. Nach dem Ersten Weltkrieg aber waren die Alliierten davon überzeugt, nicht einfach zur Tagesordnung übergehen zu dürfen. Ihre Forderung, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, war nicht irgendein außenpolitischer Schachzug, sondern der Versuch, eine zivilisatorische Errungenschaft zu verteidigen: die rechtliche Begrenzung der Kriegsgewalt, vertraglich geregelt in der Haager Landkriegsordnung von 1907.

    Im Mittelpunkt von Gerd Hankels Untersuchung über die Leipziger Prozesse stehen "Gräueltaten und systematisches unmenschliches Verhalten" deutscher Soldaten während des blutigen Vormarsches durch Belgien. Auf zweihundert Seiten kann man Prozess für Prozess und bis in einzelne Passagen von Zeugenvernehmungen hinein nachvollziehen, wie der "Prolog zu Nürnberg" scheiterte. Der Autor warnt allerdings davor, allein auf die Zahl der Verurteilten abzustellen. Bereits die Tatsache, dass von der deutschen Justiz erstmals der Begriff des Kriegsverbrechens erörtert werden musste, dass Rechtfertigungsmuster wie "Kriegsnotwendigkeit" und "Handeln auf Befehl" zur Debatte standen, wertet er als Fortschritt. Galt doch bis dahin die Vorstellung als abwegig, die Verletzung völkerrechtlicher Verpflichtungen könne nach deutschem Recht strafbar sein.

    Aufs Ganze gesehen, kam es aber zu einer mutwilligen juristischen Rechtfertigung der deutschen Kriegführung. Das zeitigte üble Folgen für den nächsten Krieg. Zwar liegen, wie der Autor betont, Welten zwischen den Exzessen der deutschen Armee in Belgien und dem Vernichtungskrieg der Wehrmacht in Russland. Trotzdem lässt sich schon im Ersten Weltkrieg eine Entgrenzung von Gewalt erkennen, die später, unter den Bedingungen des NS-Staats, mit hochkrimineller Energie auf die Spitze getrieben wurde.

    Gerd Hankel hat eine material- und kenntnisreiche Studie geschrieben, die eine Lücke schließt. Seine Rekonstruktion der Leipziger Prozesse führt die widersprüchlichen Anfänge des modernen Völkerstrafrechts vor Augen. Die Besiegtenjustiz in Leipzig zeigt aber auch, warum fünfundzwanzig Jahre später in Nürnberg allein Siegerjustiz in Betracht kam.

    Horst Meier über Gerd Hankels Studie "Die Leipziger Prozesse. Deutsche Kriegsverbrechen und ihre strafrechtliche Verfolgung nach dem Ersten Weltkrieg". Der Band ist in der Hamburger Edition erschienen, umfasst 550 Seiten und kostet 30 Euro.