Testament des Senatsbaudirektors

Rezensiert von Nikolaus Bernau · 09.03.2006
Der Berliner Senatsbaudirektor Hans Stimmann wird 65 Jahre alt. Im Allgemeinen werden Beamte dann pensioniert, er hat aber seine Dienstzeit verlängern lassen bis zu den Abgeordnetenhauswahlen im Herbst. Spätestens dann wird einer der bekanntesten, aber auch umstrittensten Stadtplaner Deutschlands aus dem Amt scheiden. Jetzt hat er gemeinsam mit dem Architekturtheoretiker Martin Kieren ein neues Buch vorgelegt: "Die Architektur des neuen Berlin".
Das Buch ist erst einmal eine Art Arbeitsnachweis über die vergangenen 15 Jahre. Stimmann wurde 1990 zum Senatsbaudirektor berufen. Seitdem beherrscht er mit seiner zeitweise, als der Bauboom Berlin im Griff hatte und die Kräne in der ganzen Republik nicht ausreichten, um die hiesigen Baustellen zu bedienen, schier allmächtigen Bauverwaltung das Bauen Berlins wie zuletzt vielleicht Martin Wagner in den zwanziger Jahren.

Das Resultat dieser Herrschaft wird vorgeführt in langen Texten und vor allem in den hervorragenden Fotografien von Jan-Erik Ouwerkerk. Die sind streng schwarz-weiß, immer mit großem Winkel aufgenommen, nur sehr selten mit Menschen darauf. Wenn man das Buch schnell durchblättert, hat man das Gefühl, ein Rechteck folgt auf ein Quadrat und auf dies wieder ein Rechteck.

Das neue Berlin erscheint ordentlich gerastert, eingepfercht, verklemmt. Selbst üppig schwungvolle, gläserne Gebäude wie das SAP-Haus am Hackeschen Markt erscheinen in dieser Ästhetik schwer lastend. Der Mitautor Martin Kieren wagt zwar ab und zu zarte Kritik an Stimmans Politik, aber dafür, dass Kieren Professor für Architekturtheorie ist, argumentiert er viel zu weich und zu leger im Umgang mit historischen Quellen, um Stimmann wirklich Paroli bieten zu können. Stattdessen muss man Unsinn lesen wie den, dass Berlin "nie eine schöne Stadt war" im Vergleich zu Paris oder London.

Das ist jedoch historisch falsch, Berlin wurde etwa um 1860 als ausgesprochen schön gebaute Stadt gerühmt, und außerdem ist so eine Wertung irrelevant, denn jede Stadt definiert sich nun einmal selbst. Und gerade das ist Stimmann ja gelungen mit seinen strengen Bauregeln. Er hat Berlin ein Gesicht gegeben.

Aber das Buch ist noch mehr als ein Rechenschaftsbericht. Es ist ein Testament. Jeder andere Begriff wäre verfehlt. Stimmann möchte damit seine Nachfolger festlegen auf ein städtebauliches und architektonisches Glaubenssystem, das mit dem Begriff "Kritische Rekonstruktion" inzwischen, muss man sagen, weltberühmt geworden ist.

Die Theorien wurden in den späten siebziger Jahren nach den Massenschlachtungen der historischen Wohngebiete entwickelt. Es ging darum, die alten Städte, ihre Grundrisse und Proportionen wieder aufzunehmen und in die Zukunft zu transportieren. Stimmann hat diese Theorie in ein bürokratisches Regelgerüst gegossen, und in diesem Buch verteidigt er das noch einmal wortreich. Manchmal wünschte man sich einen harten Redakteur bei dieser Art von Prachtbänden.

Aber zurück zur kritischen Rekonstruktion: Im Wesentlichen geht es darum, den historischen Stadtgrundriss wieder aufzunehmen, den Häusern eine bestimmte, als historisch gewachsen betrachtete Höhe zu geben und ihre Breite festzulegen. An sich also eine sehr vernünftige Sache. Nur wurde sie in Berlin zur Doktrin. Und dieser Doktrin fällt dann schon einmal ein so entzückender Platz wie der an der Ecke Friedrichstraße und Unter den Linden zum Opfer, denn an diesem Platz stand vor dem Krieg ein Haus, und also muss nach Stimmanns Willen wieder ein Haus hier stehen. Schon an solchen Details können wir sehen, dass es ihm nicht etwa um Geschichte und um die Vielfalt der Geschichte geht, sondern darum, in der Geschichte eine Legitimation für heutige Planungen zu finden. Ironischer Weise ist das ja nun ganz und gar modern.

Stimmann ist bei aller Poltrigkeit ein ziemlich dünnhäutig. Über Kritiker regt er sich noch nach Jahren schrecklich auf, und wenn es gar Architekten gewagt haben, seine Entscheidungen nicht zu goutieren, wurden sie regelrecht geschnitten, nicht mehr nach Berlin eingeladen. So brauchte es schon das direkte Engagement der niederländischen Botschaft, damit der weltberühmte Rem Koolhaas hier bauen durfte. Koolhaas hatte Stimmann im Wettbewerb um den Potsdamer Platz 1991 direkt angegriffen und ihm vorgeworfen, mit seinen strengen Regeln für die Abstände zwischen Häusern, deren Höhen und Breiten sowie Fassadenraster eine provinzielle Baukunst zu fördern. Stimmann ist da übrigens ganz offen, wenn er beschreibt, dass es eben nicht anginge, dass Architekten machen könnten, was sie oder ihre Bauherren wollten. Es ist seine feste Überzeugung, dass die Gesellschaft und die Politik die Pflicht haben, Rahmen aufzustellen.

Das ist das eigentlich interessante an Stimmann: Er verbindet ganz konservativ-sozialdemokratische Vorstellungen von der Allenkungsmacht des Staates mit der liberalen Idealisierung des Bürgertums. Aus seiner Sicht hat die Nachkriegsmoderne dies Bürgertum zerstört. Das ist sein eigentliches Ziel: Mit den strengen Regeln will er es möglich machen, dass wieder ein Bürgertum entsteht, so eines, wie er es sich vorstellt: liberal, aber verantwortlich, etwas konservativ, aber nicht spießig, rational, aber nicht kalt.

Das Problem ist dabei: So ein Bürgertum hat es wohl niemals irgendwo gegeben, sicher aber nicht in Berlin. Es ist eine gesellschaftliche Utopie, von der wir hier lesen. Und so ist auch Stimmanns Städtebau und Architekturpolitik hochgradig utopisch – sie versucht Ordnung in einer Zeit und in einer Stadt zu schaffen, die gerade von dem Bruch mit althergebrachten Regeln und Ordnungen lebt.

Stimmann ist einerseits ein Musterbeispiel für die Idiotie unserer starren Pensionsreglungen, diesen Mann voller Schaffenskraft, Energie und Wut auf alle, die er als Gegner seiner Politik ausgemacht hat, nun zu privatisieren. Was uns jetzt droht, ist blanke, phantasielose Technokratie. Die neue Bausenatorin Ingeborg Junge-Reyer ist zwar ganz groß in Negativbeschlüssen wie dem sinnlosen Abriss des Palastes der Republik, aber letztlich ist sie nur eine Bürokratin im Politikersessel.

Stimmann aber ist ein Politiker im Bürokratensessel. Er hat die Architekturwerkstatt initiiert und die Architekturgespräche, seine Ausstellungen haben Berlin weltweit bekannt gemacht als Hotspot der Architektur. Die von ihm kujonierten Jurys haben er Stadt wieder ein Gesicht gegeben. Man muss dies Gesicht nicht lieben, um trotzdem anzuerkennen, dass man Straßenansichten aus Berlin sofort wieder erkennt.

Dass jene Baumeister, die ihm jahrelang liebedienerten und von ihm gefördert wurden, jetzt, wo er seine Macht verlieren wird, nicht einmal einen anständigen Festakt zu seinem Geburtstag, geschweige denn eine angemessene Ausstellung oder gar einen Prachtband veranstalten, zeigt allerdings, was für schwache Charaktere in seiner Umgebung herangewachsen sind.

Andererseits ist er also auch eine Beleg für die Intelligenz, die hinter der Zwangspensionierung steckt: Noch einige Jahre mehr Stimmann und Berlin hätte den Anschluss an die internationale Architekturentwicklung verloren. Wir werden also erleichtert sein, und wir werden ihn vermissen.

Hans Stimman, Martin Kieren: Die Architektur des Neuen Berlin
Nicolai-Verlag Berlin 2005, 509 Seiten