Wegweiser fürs bessere Verstehen

03.07.2008
In Michael Moskowitz' Sachbuch "Gedanken lesen" geht es keineswegs um Zaubertricks oder Wahrsagerei. Der Psychoanalytiker wirft die Frage auf, warum das Erspüren der Gefühle von anderen so schwierig ist und die Missverständnisse zwischen den Menschen nie enden. Wir können unsere Fähigkeit, die Gedanken anderer Menschen zu lesen, trainieren, ist der Autor überzeugt.
Wer die Gedanken eines anderen Menschen lesen möchte, muss sich die Mühe machen, sich in seine Lage zu versetzen und mit ihm zu kommunizieren. Auf diese kurze Formel könnte man die Quintessenz des Buches "Gedankenlesen" des amerikanischen Psychoanalytikers Michael Moskowitz bringen. "Theories of Mind (ToM)", wie der englische Fachgegriff lautet - Theorien von dem, was im Kopf und im Gemüt anderer vor sich geht - bilden wir alle unaufhörlich, erklärt Moskowitz.

Das Bewusstsein anderer zu lesen ist wie Sprache eine Grundform sozialer Kommunikation. Sich erklären zu können, wie ein anderer Mensch fühlt, was er beabsichtigen mag, wie er zu uns steht, welche Zukunft wir mit ihm heute oder in der kommenden Zeit zu erwarten haben, bietet eine überlebenswichtige Orientierung im komplexen sozialen Zusammenleben.

Wer einen Säugling verunsichern möchte, starrt ihn zwei Minuten mit eingefrorenem Gesicht an - der Puls des Kindes wird umgehend steigen, es wird versuchen, sich durch Nuckeln zu beruhigen, und alle Anzeichen einer Stressreaktion zeigen. Spätestens wenn man dann wieder lacht, wird das Kind heulen und Körperkontakt ersehnen. Wer die Signale anderer nicht lesen kann, ist sozial verloren.

Obgleich die soziale Kognition angeboren ist, kommt es zu zahllosen Missverständnissen und Schwierigkeiten beim Gedankenlesen anderer. Was alles schief laufen kann, wenn wir andere zu ergründen versuchen, erläutert Moskowitz - nach einer kurzen Einführung in die hirnorganischen Grundlagen des zwischenmenschlichen Einfühlungsvermögens - im breiten Mittelteil seines Buches.

Angst etwa ist ein starker Verzerrungsfaktor in der Wahrnehmung anderer: Wer Angst hat, spürt Kritik, wo keine ist, fühlt sich ohne echten äußeren Grund nicht respektiert oder nicht gemocht. Im Extremfall zieht sich ein Mensch mit starken Sozialängsten zurück und verlernt in der Isolation vollends zu verstehen, was in anderen vor sich geht.

Aber auch das Bedürfnis nach Geborgenheit ist, paradoxerweise, ein Grund, warum wir andere gerne missverstehen - häufig zu ihrem Vorteil. In einem spannenden Kapitel präsentiert Moskowitz eine ganze Reihe von Forschungsergebnissen zum Thema Lügen. Die meisten Menschen lügen weitaus häufiger, als ihnen bewusst ist - und genau so werden sie auch sehr viel häufiger angelogen, als sie wahrhaben wollen. Lügen sind ein mächtiges soziales Schmiermittel - sie werden eingesetzt, um die Gefühle anderer zu schonen, um eine gute Stimmung zu erzeugen, um Schwierigkeiten zu begrenzen und den sozialen Zusammenhalt zu festigen.

Soziale Interaktion bedeutet ein ständiges Austarieren von Bedürfnissen und Wünschen und findet zum großen Teil im Halbbewussten statt: Wir tasten uns vor, versuchen unser Gegenüber zu erspüren, während wir gleichzeitig nur ungenau wissen, was in uns selbst vor sich geht. Ganz besonders häufig, so hat eine Studie herausgefunden, werden übrigens Mütter angelogen - noch von ihren erwachsenen Kindern.

Moskowitz‘ Buch ist kein Ratgeber, wie das Vorwort unnötig suggeriert. Dazu ist die Materie, die der Autor auffächert, viel zu komplex und differenziert beschrieben. Bisweilen geht Moskowitz in der Fülle dessen, was er erzählen möchte, der rote Faden ein bisschen verloren: Es geht um Hirnforschung und Depressionen, um intime Zweierbeziehungen und Entwicklungspsychologie, um Primatenforschung und Borderline-Symptomatiken - und manchmal um alles gleichzeitig.

Wer sich mitreißen lässt, wird mit dennoch mit einer spannende Lektüre belohnt: Moskowitz verfügt über ein profundes psychologisches Wissen, blickt mit uns in Studien und Forschungslabore und erzählt warmherzig und humorvoll von seinen Patienten, ihren Nöten und Sehnsüchten im Zusammenleben mit anderen Menschen.

Rezensiert von Susanne Billig

Michael Moskowitz: Gedanken lesen:
Erkennen, was andere denken und fühlen

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Gottfried Röckelein
Pendo Verlag
270 Seiten, 19,90 Euro