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Entdecker, Forscher, Abenteurer

Eine imaginäre Reise durch die Geschichte der Biologie beschreibt der Autor Michael Zeidler in dem Roman "Wie Lukas Charles Darwin aus der Klemme half". Der Autor Reinhard Barth nimmt junge Leser dagegen mit auf die Expeditionstouren Alexander von Humboldts. Der Spagat zwischen Wissensvermittlung und Lesespass gelingt in den beiden Neuerscheinungen dabei meistens.

Von Florian Felix Weyh | 29.09.2007
    "Um elf Uhr ging der Radau los: Affen, Jaguare, Faultiere, Bisamschweine, Papageien und andere Vögel - alles schrie durcheinander. Ein Höllenspekta-kel, bei dem niemand ein Auge zu tun konnte. Humboldt fragte die Indianer nach dem Grund des nächtlichen Lärms. Die Antworteten heiter: Sie feiern den Vollmond. Dass die Auskunft nicht stimmte, erfuhr Humboldt nur zu bald: Den nächtlichen Aufruhr gab es auch ohne Vollmond; vermutlich entstand er aus irgendeinem Vorfall im Inneren des Waldes: Ein Rudel Bisamschweine auf der Flucht vor dem Jaguar riss ein Dickicht auf, die Hatz weckte die Affen, deren Geschrei störte wieder die in den Wipfeln schlafenden Vögel auf und so weiter."

    Natur ist keine beschauliche Angelegenheit, jedenfalls nicht in den Regenwäldern Südamerikas. Von Nachtruhe kann selten die Rede sein, und am Tage stürzen sich Myriaden von Mosquitos auf Alexander von Humboldt und seinen Reisege-fährten Aimé Bonpland. Ihre Haut ist von Geschwüren bedeckt, dennoch kämpfen sie sich immer weiter voran. Nicht die Eroberung fremder Länder steht auf dem Plan, noch die Suche nach sagenumwobenen Schätzen. Oder doch? Um Reich-tum geht es den beiden Naturforschern sehr wohl, nur glänzt er nicht golden, son-dern schimmert in allen Varianten der Farbe Grün.

    "Überall verstecken sich die Baumstämme hinter einem grünen Teppich, und wollte man all die Orchideen, die Pfeffer- und Pothosarten, die auf einem einzigen Heuschreckenbaum oder amerikani¬schen Feigenbaum wachsen, sorgsam verpflanzen, so würde ein ganzes Stück Land damit bedeckt."

    … beschreibt Humboldt die erste überwältigende Begegnung mit der Pflanzen-pracht des Regenwaldes. Eine Fülle, die sogleich an die eigenen Aufgaben gemahnt: Nicht Staunen, sondern Ergründen, lautet das Programm, Sammeln, Sortieren, Einordnen, auch wenn es praktisch schwer umsetzbar erscheint.

    "Dieselben Lianen, die am Boden kriechen, klettern zu den Baumgipfeln empor und schwingen sich, mehr als hundert Fuß hoch, vom einen zum anderen. So kommt es, dass, da die Schmarotzergewächse sich überall durcheinander wirren, der Botaniker Gefahr läuft, Blüten, Früchte und Laub, die verschiedenen Arten angehören, zu verwechseln."

    Seit ein paar Jahren kennt man ihn wieder, den großen deutschen Entdecker Alexander von Humboldt. Der Erfolg opulenter Neueditionen seiner Werke trug ihn ebenso ins öffentliche Bewusstsein zurück wie sein Auftritt als Romanheld in Daniel Kehlmanns "Vermessung der Welt". Doch kennen ihn auch Jugendliche, bewundern seinen bis ins hohe Alter unbeugsamen Willen, seine nie nachlassende Wissbegierde? Nein, vermutet der Sachbuchautor Reinhold Barth und liefert die erste moderne Humboldt-Biographie für junge Leser ab. Ein Selbstläufer, sollte man meinen, denn das Leben Humboldts gibt schon allein wegen der abenteuerlichen Entdeckungsreisen alles her, was ein spannendes Jugendbuch braucht. Allein, genau das markiert das Problem: Der exotische Abenteuerroman, für den Humboldts Leben noch vor drei Generationen die ideale Vorlage abgab, existiert nicht mehr. Weil die sichtbare Welt komplett entdeckt und kartografiert ist, haben sich die Territorien der Sehnsucht auf Fantasy-Universen verschoben. So steht Reinhold Barth unter dem deutlich spürbaren Begründungszwang, Humboldts Leben als Stoff für Jugendliche rechtfertigen zu müssen:

    "Ein Mitglied der Philosophical Society schrieb: ‚Ich wünschte, er konnte sich hier etwas ausruhen und seine Werke hier veröffentlichen. Die Schätze seines Wissens sind mehr wert als die reichste Goldmine. Konnte man Humboldts Modernität besser charakterisieren? Dass Wissen viel bedeutete und in Zukunft auch noch immer mehr bedeuten würde - hier war es klar ausge-sprochen’."

    Wissen um seiner selbst willen lohnt mehr als alle Diplome - so lautet der rote Faden des Buches, gestützt von der für unsere Angestelltenmentalität schier unglaublichen Tatsache, dass Alexander von Humboldt sein gesamtes Privatvermögen verbrauchte, um botanische, geographische, ethnologische und viele andere, ihn bedrängende Fragen zu klären.

    ""Was er immer für Geld ausgibt, ist entsetzlich’, klagt sein Bruder Wilhelm einmal. Das stimmt: Humboldt schien, wie Wilhelm verzweifelt notierte, überhaupt nach einem Grundsatz zu leben, der ungefähr so lautete: Da einen jederzeit der Tod ereilen kann, wäre es doch jammerschade, sein Kapital nicht vorher genossen zu haben."

    Wissenschaft nicht als Mittel zum Zweck, sondern als umfassender Lebensinhalt. Vor dem Hintergrund des aufkommenden Industriezeitalters mit seinem Nützlichkeitsdenken wirkte Alexander von Humboldt freilich schon an seinem Lebensende wie ein Relikt vergangener Zeiten. Vorbildlich ist seine Person geblieben - doch ist sie auch für heutige Jugendliche attraktiv? Für sie sollten Wissensdrang und Erkenntnislust aus sich selbst heraus strahlen, doch damit tut sich die faktenorientierte, auf jedes fiktive Beiwerk verzichtende Biografie ein bisschen schwer. Reinhold Barth zeichnet das Leben Humboldts chronologisch nach und gerät dabei rasch in den gleichförmigen Rhythmus kalendarischen Erzählens. Nichts spitzt sich zu, die tatsächlich und im übertragenen Sinne erklommenen Gipfel wirken wie ein dauerhafter Lebensspaziergang auf einer Hochebene. Erhaben ist dort bisweilen die Aussicht, aber nicht automatisch spannend, solange man sich nicht für barometrische Messreihen, die Belastbarkeit von Lianen oder dem Kuhbaum inte-ressiert - und, Hand auf’s Herz, welcher Jugendliche tut das schon von sich aus? Auch die in Humboldts Leben angelegte Parallelität von Reisen und Diplomatie, Naturwissenschaft und Politik bleibt brav und historisch fern erzählt. Im Epilog schließlich wandelt sich das Buch zum Manual für Deutschlehrer, wenn es noch einmal ausführlich zwölf Argumente für die Modernität des Weltreisenden durchdekliniert, damit auch der letzte Hinterbänkler begreift, warum die Lektüre für ihn so wichtig gewesen ist. Konzessionen an junge Leser macht der Autor selten. Neben ein paar umgangssprachlichen Flapsigkeiten sticht eigentlich nur eine ins Auge, ganz offensichtlich von der Kinderfrage inspiriert, warum Abenteuerhelden nie von natürlichen Bedürfnissen gequält werden:

    "Man würde auch gerne etwas über die Hygiene an Bord und in den Urwaldcamps erfahren. Wo und wie verrichteten die Reisenden eigentlich ihre Notdurft, wo wuschen sie sich, wann wechselten sie ihre Kleider, wie hielten ihre aus Europa mitgebrachten Textilien überhaupt die mörderische Abnutzung aus? Darüber geht Humboldt gleichgültig hinweg, die Aufzeichnungen, weder die gleichzeitigen noch die späteren in Buchform enthalten ein Wort dazu."

    Hier allerdings geht die Annäherung ans kindliche Denken ins Leere, denn es fehlt die anschließende Erklärung, dass Mitteilungen aus der Intimsphäre nirgendwo in der Literatur des 18. und frühen 19. Jahrhunderts zu finden sind - auch nicht in privaten Aufzeichnungsformen wie Brief oder Tagebuch. Man schwieg einfach über schambesetzte körperliche Prozesse.

    Während es Humboldt beim Beschreiben und Begreifen beließ, blieben spätere Forscher der Natur gegenüber nicht so passiv. In der Geschichte der Genetik, der Michael Zeidler in seinem Sach-Roman "Wie Lukas Charles Darwin aus der Klemme half" nachspürt, wurde der staunende Blick oftmals von manipulativen Eingriffen begleitet. Zwangsläufig, denn ohne Kreuzungsversuche wüssten wir bis heute nicht, wie Vererbung vonstatten geht. Diese Versuche darf man sich allerdings nicht als klinisch reine Veranstaltung vorstellen.

    "Regalbretter bogen sich unter dem Gewicht mehrfach übereinander ge-stapelter Milchflaschen, in denen sich hunderte Fruchtfliegen an zermatschten Bananen gütlich taten. Doch nicht alle waren in Milchflaschen gefangen. Viele schienen sich in dem überquellenden Mülleimer wohlzufühlen, krabbelten herum und wirbelten in der Luft umeinander. In einer Ecke stapelten sich dreckige Milchflaschen gefährlich hoch; gleich daneben drohte ein Berg von Gläsern, Pfannen und Löffeln über den Rand eines Waschbeckens zu kippen. Die wenigen Flecken Wand, die nicht von Regalen bedeckt wurden, waren zugepflastert mit Zeichnungen von Fruchtfliegen, Diagrammen und Tabellen, oftmals mehrere übereinander gesteckt. Gleich neben dem Eingang hing eine Staude schwarzer Bananen, um die eine Wolke Fruchtfliegen tanzte."

    Drosophila melanogaster, die wohl bekannteste Fliege der Welt, wurde erstmals von Thomas Hunt Morgan für genetische Experimente eingesetzt. Dass es um die Jahrhundertwende in seinem Universitätslabor so unaufgeräumt zuging, darf man Michael Zeidler wohl glauben, denn die Beschreibung von rund zwei Dutzend Arbeitsplätzen berühmter Biologen und Mediziner beruht auf solider Recherche. Dazu gesellt sich bei diesem Autor eine starke Imaginationskraft, zumindest für die historischen Episoden des Buches. Schwerer tut er sich mit der Rahmenhandlung, die den trockenen Biologiestoff in eine lebensnahe Geschichte verwandeln will. Der jugendliche Held Lukas leidet unter der Bluterkrankheit und isoliert sich darum von seinen Mitschülern - bei Sport und Spiel muss er einfach zu vorsichtig sein. Stattdessen driftet er in Traumwelten ab und lässt sich von seinem verstorbenen Großvater, augenscheinlich einem Biologen, in die Geschichte der Fortpflanzungslehre einweihen. Diese beginnt im 18. Jahrhundert bei Lamarck und endet mit Lukas selbst, bei der keine Heilung verheißenden Schlusserkenntnis nämlich, woran er eigentlich leidet: einem genetischen Defekt.

    "In deinem Fall ist das Gen namens F8 zerstört, und zwar durch eine Inversion. Das bedeutet, ein Teil des Gens liegt verkehrt herum vor, und dadurch kann das dazugehörige Protein, der Blutgerinnungsfaktor VIII, nicht hergestellt werden."

    … erklärt der imaginäre Großvater, bevor er endgültig verschwindet. Zuvor hat Lukas ein Fachbuch von seiner Hand durchgearbeitet und parallel im schulischen Biologieunterricht geglänzt. Diese doppelte Abstützung des Themas müsste nicht sein, lebt der belletristische Teil des Buches doch von den Besuchen, die der Held bei den jeweiligen Forschern in Tagtraumsequenzen absolviert. Lukas ist es, der die erste weißäugige Mutation unter den rotäugigen Fruchtfliegen des Thomas Hunt Morgan entdeckt. Lukas verteidigt Darwins Thesen gegen Kritiker, weil Darwin kränkelt und die Öffentlichkeit scheut (daher der Buchtitel), Lukas besucht den Klosterbruder Gregor Mendel und den menschlichen Eiter untersuchenden Zellforscher Johann Friedrich Miescher. All diese Passagen sind rundum gelungen, denn sie bringen dem jugendlichen Leser die fiebernde Atmosphäre der Entdeckungslust nahe. Dass man monatelang Tausende von Fliegen durchmustert, während es rundum nach verfaultem Obst riecht, bloß um eine minimale Abweichung zu entdecken, erweist sich als abenteuerliche Schatzsuche; eine Haltung, die sich auf spätere abstrakte Forschungsgegenstände übertragen lässt. Denn das markiert die große Herausforderung: Moderne Genetik glänzt nicht eben durch Anschaulichkeit. Je weiter Lukas im 20. Jahrhundert vorankommt, desto stärker muss er - und der Leser mit ihm - seinen Grips anstrengen, seine Kenntnisse wissenschaftlicher Methodik, formaler Logik und molekularbiologischer Terminologie vertiefen. Michael Zeidler hat ein komplettes Biologiebuch fürs höhere Schulwesen in einen Roman gepackt. Das ist mutig und gelingt, hohe Konzentration des Lesers vorausgesetzt, über weite Strecken durchaus. An die zeitgenössische Rahmenhand-lung zwischen Schulstunde und Liebeskummer darf man keine allzu hohen Maßstäbe anlegen, sie dient der Atempause zwischen den immer anspruchsvoller werdenden Wissenschaftspassagen. Ein Manko freilich wertet dieses mit Glossar, Personenregister und Zeittafel reich ausgestattete Buch dann dennoch ab: Es ist bilderlos. Gerade Genetik lässt sich rein sprachlich, unter Verzicht auf hilfreiche Illustrationen nur schwer vermitteln. Es bleibt ein Geheimnis des Verlags, warum er gerade bei diesem Thema auf visuelle Keuschheit setzt. Historische Laborszenen lassen sich passabel schildern - bei der DNA-Replikation stößt auch Michael Zeidler an die Grenzen seiner Imaginationskraft.