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Qualitätssicherung in der Medizin
"Es braucht Regulierungsrahmen für Medizinprodukte"

Die Qualitätsanforderungen etwa an Herzschrittmachern und Prothesen sei deutlich geringer als bei Arzneimitteln, beklagt Jürgen Windeler im Deutschlandfunk. Der Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) fordert deshalb, dass Studien zur Pflicht werden müssten.

Jürgen Windeler im Gespräch mit Ralf Krauter | 19.08.2014
    Der Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), Jürgen Windeler.
    Die Qualitätsanforderungen bei Prothesen seien im Vergleich zu denen bei Arzneimitteln geringer, sagte Jürgen Windeler der Leiter vom IQWiG. (Frank Purk)
    Ralf Krauter: IQWiG: Hinter diesem Kürzel verbirgt sich das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen in Köln. Die 2004 gegründete Einrichtung ist so eine Art deutscher Medizin-TÜV. Auf Basis wissenschaftlicher Analysen sollen ihre Mitarbeiter herausfinden, welche Medikamente, Diagnose- und Therapieverfahren Patienten tatsächlich helfen und welche ihnen eher schaden als nutzen. Auf Basis dieser Analysen erarbeitet das IQWiG dann Empfehlungen, die es den Entscheidungsträger im Gesundheitswesen erlauben, sicherzustellen, dass die verfügbaren Finanzmittel und Ressourcen, möglichst effizient eingesetzt werden. Das IQWiG feiert in diesem Jahr seinen 10. Geburtstag. Jürgen Windeler, hat sich das IQWiG – in Anlehnung an das Adenauer-Zitat "Mach' Dich erst mal unbeliebt, dann nimmt man dich ernst" in den vergangenen 10 Jahren unbeliebt genug gemacht hat, um von allen Playern im Gesundheitswesen ernst genommen zu werden?
    Jürgen Windeler: Da werden Sie wahrscheinlich die Player besser fragen müssen. Einige würden sagen, es hat sich sehr unbeliebt gemacht, andere sagen, es hat sich im Rahmen gehalten. Es hat sich in seinen Anfangsjahren sehr unbeliebt machen müssen, weil einfach kein Platz für diese Institution im Gesundheitssystem war und man so ein bisschen erst mal dafür sorgen musste, dass man einen solchen Platz bekam und ernst genommen wurde. Inzwischen funktioniert das Ernstnehmen, ohne sich darin unbeliebt zu machen.
    Krauter: Schauen wir kurz zurück, das darf man bei so einem runden Jubiläum ja auch tun, sollte man auch tun. Was waren die vielleicht drei wichtigsten Schlachten, die Sie und Ihr Vorgänger als Institutsleiter, Professor Peter Sawitzki, geschlagen haben, schlagen mussten?
    Tief reichende Auseinandersetzungen
    Windeler: Es gab in den Anfangsjahren des Instituts insbesondere sehr tief reichende Auseinandersetzungen, eine Diskussion, die auch bis heute ein Stück weit andauert, ist die Diskussion um Diabetesmedikamente, wo es immer wieder heftige Kontroversen gibt. Eine andere Diskussion, die sich durch die Jahre gezogen hat, allerdings auch, ohne dies Schlacht zu nennen, ist die Bewertung von diagnostischen Verfahren, wo es dem IQWiG eben im Wesentlichen darum geht, haben die Menschen was davon oder wird einfach nur irgendwas erkannt. Und eine dritte Schlacht oder ein Drittes, sagen wir einmal, etwas konfliktbeladenes Arbeitsgebiet ist sicherlich grundsätzlich der Ruf nach Transparenz, den das IQWiG von allem Anbeginn und auch bis heute laut äußert, wo es selber die Transparenz praktiziert, aber diese Transparenz, das heißt also die Darlegung von Argumenten und von Daten auch von anderen einfordert.
    Krauter: Ich würde gern einen Punkt aufgreifen, den Sie angesprochen haben, Stichwort Diagnostik. Da gibt es ja schon länger auch Zweifel am Nutzen von Früherkennungstests. Es gibt zum Beispiel Studien, die belegen, dass Reihenuntersuchungen für Hautkrebs und Prostatakrebs nicht wirklich helfen, die Sterblichkeit nennenswert zu verringern. Trotzdem werden die von vielen Ärzten immer noch angeboten, vielleicht auch aus wirtschaftlichen Gründen zum Teil. Warum kann man da nicht mehr dagegen tun, Sie als IQWiG?
    Windeler: Das IQWiG ist ein wissenschaftliches Institut, und dieses wissenschaftliche Institut ist dafür da, die wissenschaftlichen Daten, die für ein Verfahren vorliegen, die zeigen, ob es einen Nutzen hat oder einen Schaden hat, und wie da die Abwägung ist, diese Dinge aufzubereiten, aufzuzeigen, in Berichten darzulegen. Das IQWiG ist keine Entscheidungsinstitution. Sie bereitet Entscheidungen unter Umständen vor, aber entscheiden muss der gemeinsame Bundesausschuss, der wiederum kann auch nur für die gesetzliche Krankenversicherung entscheiden. Und es gibt natürlich, wie jeder vermutlich weiß, auch noch einen Gesundheitsmarkt außerhalb dieser Krankenversicherung, auf den das IQWiG und auf den der GBA überhaupt keinen Einfluss hat.
    Krauter: Das IQWiG liefert die Fakten, die dann als Basis für Entscheidungen dienen. Das ist seine Aufgabe. Wo sehen sie denn auf Basis dieser Fakten, die Ihnen vorliegen, aktuell die größten Baustellen bei der Qualitätssicherung im Gesundheitswesen?
    "Baustelle Medizinprodukte, Medizintechnik"
    Windeler: Eine große Baustelle, auf die ich auch seit längerer Zeit, seit Jahren immer wieder hinweise, ist das Thema Medizinprodukte, Medizintechnik, also nicht Arzneimittel, die in aller Munde sind, sondern eben andere Produkte und Gerätschaften, die im Medizinbetrieb eingesetzt werden. Das fängt bei Herzschrittmachern an, geht über Prothesen und viele andere Geräte und Gerätschaften, die am Menschen eingesetzt werden. Dort ist die Anforderung an die Qualität, die Anforderung an den Nutzen der Produkte deutlich geringer als bei Arzneimitteln, die werden deutlich schlechter reguliert. Und dort ist sicherlich eine Baustelle, die in den nächsten Jahren stärker zu beackern sein wird.
    Krauter: Die Basis für Ihre Empfehlungen sind letztlich ja häufig klinische Studien, wissenschaftliche Analysen. Jetzt gibt es aber Untersuchungen, die kommen zu dem Schluss, dass die Hälfte aller einschlägigen wissenschaftlichen Publikationen im Bereich klinischer Forschung statistisch fehlerhaft und damit wenig aussagekräftig ist. Stellt das nicht die Glaubwürdigkeit der ganzen Disziplin letztlich fundamental infrage?
    Windeler: Ja, Sie sprechen da ein wichtiges Thema an, wobei man zunächst erst mal sagen muss, dass auch nur ein Teil, auch da spricht man etwa von der Hälfte, von durchgeführten Studien, von durchgeführten wissenschaftlichen Untersuchungen überhaupt das Licht der Öffentlichkeit erblickt. Das ist natürlich zunächst mal ein großes Problem, weil auch völlig klar ist, dass eher die positiven, aufsehenerregenden Ergebnisse publiziert werden, und Dinge, die jetzt nicht so aufregend sind, sprich die vielleicht keinen Vorteil eines Medikaments oder eines Verfahrens zeigen, dass die eher in der Schreibtischschublade verschwinden. Also, eine Institution wie das IQWiG kommt unter Umständen gar nicht an die vollständigen Informationen. Deswegen eben auch unser dauerndes Bemühen, Transparenz bezüglich aller Forschungen zu bekommen. Auch die Qualität der publizierten Studien ist wechselhaft, vielleicht nicht ganz so schlecht, wie Sie gerade beschrieben haben, aber wir sind dafür da, diese Qualität sorgfältig zu prüfen, und Sie können sicher sein, dass viele Tricks, die andere kennen, die kennen wir mindestens so gut.
    Krauter: Sie haben kürzlich bei einem Festakt anlässlich des IQWiG-Jubiläums moniert, es fehle in Deutschland an Anreizen für qualitativ hochwertige wissenschaftliche Studien in der Medizin. Wie könnten solche Anreize aussehen?
    Windeler: Wenn Sie sich einen Bereich angucken, wo solche Studien gemacht werden, dann ist das der Bereich der Arzneimittel. Da werden große, aufwändige, multinationale Studien gemacht, und der Grund dafür ist, dass ein Arzneimittel ohne solche Studien nicht auf den Markt kommt. Das heißt also, ein Hersteller muss diese Studien machen, damit er eine Chance hat, dieses Arzneimittel auf den Markt und damit auch in die Versorgung zu bekommen. Das ist für alle anderen Produkte anders. Die kommen auf den Markt ohne solche Studien, und damit sind die jedenfalls unmittelbar regulativen Anreize, solche Studien zu machen, schon mal nicht so ausgeprägt, um es vorsichtig zu sagen, wie bei Arzneimitteln. Und auch sonst findet eine Diskussion über den Nutzen und den Schaden solcher Methoden – also alles, was nicht Arzneimittel ist – oft auf ganz anderen Ebenen und auf einem ganz anderen Niveau statt, und man gibt sich damit zufrieden, sodass also auch inhaltlich der Drang, jetzt zum Beispiel bei diagnostischen Verfahren nachzuweisen, dass die für den Menschen wirklich von Vorteil sind, nicht so groß ist. Insgesamt ist es ein System, das dazu beiträgt, dass Studien für nicht so übermäßig notwendig angesehen werden.
    Krauter: Was könnte man ändern? Müssten neue Gesetze, regulatorische Eingriffe her letztlich, um da einen Mentalitätswandel zu bewirken?
    Etwas mehr Druck
    Windeler: Na, eigentlich wäre es natürlich schade, wenn man das Durchführen von wirklich sinnvollen Studien zu wirklich hoch relevanten Fragestellungen nur durch Zwang oder nur durch Druck erzeugen könnte. Und ich bin der Meinung, dass es in bestimmten Bereichen etwas mehr Druckes bedarf. Also, im Bereich außerhalb von Arzneimitteln braucht es eine Struktur, einen Regulierungsrahmen, der dafür sorgt, dass man dort auch Studien vorlegen muss, vorlegen sollte. Aber eigentlich wäre es auch gut, wenn die gesamte Diskussionskultur in eine Richtung geht, die solche Studien notwendig macht und solche Studienergebnisse diskutiert und nicht irgendwelche anderen Argumente ganz vorrangig gelten lässt. Wir sind im Moment im Bereich der Früherkennung, speziell im Bereich der Mammografie, auf einem solchen Weg, wo wir uns von einer so allgemeinen Diskussion – wird schon gut sein – dorthin bewegen, wo wir sagen, was sagen eigentlich die Daten, was sagen eigentlich die Studien, und was hat das für uns für Konsequenzen. Das ist eigentlich ein Weg, der für jedes medizinische Verfahren so gelten sollte.
    Krauter: Warum sind wir auf diesem Weg nicht schon viel weiter gekommen. Also letztlich geht es ja um den Siegeszug der evidenzbasierten Medizin, aber der ist offenbar auf dem Weg in die Klinik so ein bisschen ins Stocken geraten, oder? Kann man das so sagen?
    Windeler: Ja, wenn Sie mit Klinik nicht nur Krankenhaus meinen. Der ist auf dem Weg in die Praxis schon ein bisschen ins Stocken geraten, wobei das Spannende ist, speziell auch in Deutschland, aber auch international zu beobachten, dass man den Eindruck hat, dass das speziell bei den Haus- und Allgemeinärzten weiter gekommen ist als in den Spezialdisziplinen. Ich denke, es gibt den wesentlichen Punkt, dass es möglich ist, Diskussionen über medizinische Maßnahmen zu führen, ohne dass jeder, der an dieser Diskussion beteiligt ist, darauf pocht, sie auf der Basis von Studien führen zu wollen und führen zu müssen. Es kommt dazu, dass eben die Regulierung das nicht erzwingt. Und es kommt als dritter Punkt sicher dazu, aber ich betone, es ist nicht der erste, sondern erst der dritte Punkt, dass auch die Finanzierungsmöglichkeiten für solche Studien in Deutschland trotz vieler Bemühungen immer noch unzureichend sind. Nur Geld alleine, und Geld alleine bereitzustellen, reicht nicht. Es muss vor allen Dingen der Wille da sein und die Motivation, solche Studien zu machen. Und dann werden auch die Player, wird auch die Politik mit solchem Willen, jedenfalls vielleicht mittelfristig zu überzeugen sein, dass wir dafür mehr Geld brauchen, als jetzt zur Verfügung steht.
    Krauter: Cornelius Frömmel, Professor für Biochemie in Göttingen, der schrieb kürzlich in einem Artikel in der "Zeit", Deutschland brauche eine unabhängige Institution nach dem Vorbild der nationalen Gesundheitsinstitute, die das Geld und die Macht hat, klinische Studien selber durchzuführen oder zu überwachen. Hat der Mann recht?
    "Es geht um eine ausreichende Menge Geld"
    Windeler: Der Mann hat im Grundsatz recht, wobei die genaue Organisationsform, da würde ich mich nicht unbedingt festlegen wollen. Es geht darum, in der Tat, eine ausreichende Menge an Geld zur Verfügung zu stellen, es geht darum, ausreichend konkret und ausreichend genau und machbar Fragen zu formulieren, die unbedingt bearbeitet werden müssen. Es braucht Leute, die das dann machen. Und es braucht in der Tat eine Institution natürlich, die das irgendwie zusammenhält, organisiert und sich darum kümmert, dass das läuft. Ich glaube, dass die Organisation nicht das erste ist, sondern das letzte von den Dingen, die wir da diskutieren müssen.
    Krauter: Und welche Rolle könnte das IQWiG dabei künftig spielen?
    Windeler: Das IQWiG spielt ja jetzt schon die Rolle, dass es auf der Basis seiner Sichtung der derzeitigen Studienlage Empfehlungen gibt, Anregungen gibt, was gemacht werden müsste, wie Studien aussehen müssen, die übrigens in einzelnen Fällen – ich nenne mal die Studie PREFERE, die für Männer mit frühem Prostatakarzinom gedacht ist, die in einigen Fällen auch zu wirklich realisierten Studienprojekten geführt haben. Also, das IQWiG kann die Rolle übernehmen, Anregungen zu geben, Impulse zu setzen. Ich sehe das IQWiG im Moment nicht in der Situation – und vielleicht wäre das auch eine Rollenvermischung, sich auch aktiv um die Durchführung dieser Studien zu kümmern.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.