Donnerstag, 25. April 2024

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Asylverfahren
"Balance zwischen Beschleunigung und Rechtsschutz finden"

Von der Schweiz lernen: Die Asylverfahren in Deutschland könnten nach dem Schweizer Modell deutlich beschleunigt werden, sagte Ulrich Kober von der Bertelsmann-Stiftung im Deutschlandfunk. Bern unterscheide bereits am Anfang eines Vorgangs zwischen einfachen und komplexeren Verfahren. Dennoch müsse der Rechtsschutz beibehalten werden.

Ulrich Kober im Gespräch mit Jürgen Zurheide | 12.03.2016
    Ein Flüchtling schaut in Eisenhüttenstadt aus dem Fenster einer Erstaufnahmestelle.
    Tausende Flüchtlinge warten in Deutschland auf eine Entscheidung über ihr Asylverfahren. (pa/dpa/Pleul)
    Durch die Unterscheidung der Verfahren könnten sich die Behörden auf diejenigen konzentieren, die wirklich schutzbedürftig seien, sagte Kober. In der Schweiz sei für die Verfahren wie in Deutschland auch der Bund verantwortlich. Aber auch die Schweizer Flüchtlingshilfe sei involviert und leiste eine Rechtsberatung. Die Schweiz wolle viele gesellschaftliche und humanitäre Akteuere in den Prozess einbeziehen, sagte Kober. Dies Vorgehen wäre in Deutschland eher ungewohnt.
    Deutsches Asylsystem auch vor des Flüchtlingszuzugs schon in der Krise
    Wie lange Asylverfahren in Deutschland dauern, machte er am Beispiel Afghanistans deutlich. Bei diesen würden zehn Monate zwischen Antragstellung bis zur Anhörung vergehen. Weitere dreizehn Monate dauere es, bis es eine Entscheidung gebe. Diese "Liegezeit" der Akten könne reduziert werden. Das deutsche Asylsystem steckte schon vor Beginn des Flüchtlingszuzugs in der Krise.
    Zugleich warnte Kober vor einer Klagewelle, wenn es keinen Rechtsbeistand bei den beschleunigten Verfahren gäbe. "Bei aller Beschleunigung muss man Rechtsschutz gewähren", betonte er. Man müsse den Ansprüchen der Genfer Flüchtlingskonvention gerecht werden.

    Das Interview in voller Länge:
    Jürgen Zurheide: Asylverfahren dauern in Deutschland lange, man könnte auch sagen, zu lange dauern sie und vor allen Dingen, das entsprechende Amt ist nicht ausgestattet, die Asylverfahren so durchzuführen, wie das alle eigentlich erwarten könnten. Man sagt, einiges verbessert sich inzwischen. Das werden wir sehen, und wir werden auch darüber immer wieder berichten. Das hindert uns natürlich nicht, mal in andere Länder zu schauen, und genau die Bertelsmann-Stiftung hat das getan, zum Beispiel in die Schweiz. Die hatten ähnliche Probleme bis vor wenigen Jahren, und dann haben sie vieles geändert. Die Bertelsmann-Stiftung sagt nun, da sollten wir ein bisschen genauer hingucken. Wir wollen das heute Morgen auch tun, und zwar mit Ulrich Kober, der hat für die Bertelsmann-Stiftung diese Studie ausgearbeitet. Zunächst mal sage ich guten Morgen, Herr Kober!
    Ulrich Kober: Guten Morgen, Herr Zurheide!
    "Die Kommunen werden entlastet"
    Zurheide: Herr Kober, fangen wir an, der Grundgedanke in der Schweiz, als sie was geändert haben, lautet ja - ich mache jetzt mal die Kurzfassung -, die differenzieren das Verfahren ganz am Anfang. Machen Sie es ein bisschen länger. Was hat die Schweiz geändert?
    Kober: Die Schweiz hatte eben auch einen Bearbeitungsstau und sehr lange Asylverfahren, die haben sogar noch länger gedauert als sie aktuell in Deutschland dauern. Und dann haben sie gesagt, wir müssen beschleunigen, wir dürfen aber nicht die Qualität der Rechtsentscheide dadurch gefährden, weil dann bekommen wir wieder Klagewellen, die dann doch wieder die Verfahren in die Länge ziehen. Was sie machen: Sie unterscheiden am Anfang des Asylverfahrens in einfache Verfahren und komplexere Verfahren. Die einfachen Verfahren, die werden dann in sogenannten Bundeszentren bearbeitet, und das betrifft die Verfahren von Asylbewerbern mit hoher Schutzquote oder mit geringer Schutzquote. Und dadurch werden die Kommunen entlastet, weil die sich dann bei der Aufnahme von Asylbewerbern auf die konzentrieren können, die wirklich schutzbedürftig sind.
    Zurheide: Das heißt, der Schlüssel liegt ganz am Anfang bei denjenigen, die dann allerdings eine Entscheidung treffen müssen, entweder Asyl ganz schnell mit einer hohen Erfolgswahrscheinlichkeit und ganz niedrig. Wer trifft diese Entscheidung, und wie valide ist das dann?
    Kober: Ja, das ist auch eine Besonderheit in der Schweiz, von der Deutschland sicherlich auch einiges lernen kann. Natürlich ist auch in der Schweiz der Bund verantwortlich wie bei uns für die Entscheidung. Allerdings, das fanden wir bemerkenswert, durch die Rechtsbeistände, die den Flüchtlingen an die Seite gestellt werden während des ganzen Verfahrens, ist auch die Schweizer Flüchtlingshilfe involviert, also eine nicht-staatliche Organisation, und diese Rechtsberatung wird im Auftrag der Flüchtlingshilfe von der Berner Rechtsberatungshilfe geleistet. Man sieht, die Schweiz bemüht sich, das ist vielleicht auch typisch für die Schweizer Kultur, die natürlich sehr stark auf Konsens zielt, möglichst viele der gesellschaftlichen Kräfte in diesem Prozess auch einzubeziehen. Das ist in Deutschland eigentlich undenkbar, dass der Staat hier auch zivilgesellschaftliche, humanitär orientierte Akteure einbezieht in die Verfahren.
    "Unser System hat schon vor der Fluchtwelle nicht funktioniert"
    Zurheide: Jetzt hört man ja nun ganz schnell, ich glaube, das können wir rasch abhandeln, na ja, die Schweiz ist ein kleines Land, da geht so was mehr, aber ich glaube, relativ gesehen, hat die Schweiz genauso viele Asylbewerber wie wir - oder wie ist das?
    Kober: Bis letztes Jahr, 2014, hatte die Schweiz im Blick auf ihre Bevölkerungszahl sogar viel mehr Asylbewerber als Deutschland. Das hat sich in diesem Jahr etwas verändert. Die Zahlen sind so, dass die Schweiz 39.000 Asylgesuche hatte 2015, Deutschland hatte 477.000. Allerdings ist Deutschland ja in allen Zahlen, in allen Kennziffern zehnmal größer, insofern ist der Unterschied jetzt nicht so gigantisch. Unser Problem in Deutschland ist eher, dass schon unser System vor dieser großen Fluchtwelle von 2015 nicht richtig funktioniert hat, und dann traf eben diese Fluchtwelle auf ein System, das schon in der Krise steckte, und das hat dann entsprechend zu der Funktionskrise dann noch weiter geführt.
    Zurheide: Der entscheidende Punkt scheint ja auch zu sein, die Menschen werden in der Schweiz, und die Verfahren dauern, ich glaube, so etwa um sechs Wochen, sie werden auch dann - an einem Ort sind sie da und ansprechbar. Ist das ein Faktor, von dem Sie sagen, das hilft, Verfahren zu beschleunigen, ohne rechtsstaatliche Prinzipien außer Kraft zu setzen?
    Kober: Ja, man muss vor allen Dingen den Begriff Beschleunigung noch mal klarer machen. Beschleunigung heißt nicht, dass die Leute plötzlich schneller arbeiten, sondern was das bedeutet, ist, die Liegezeiten werden reduziert.
    "Die Schweiz zeigt, dass man eine Balance finden kann"
    Zurheide: Liegezeiten von Akten?
    Kober: Exakt. Wir haben ja eine gewisse Zeit, bis die Asylbewerber ihren Antrag stellen können. Dann haben wir wieder eine Zeit, bis sie angehört werden. Dann gibt es wieder eine Zeit, bis entschieden wird. Das zieht sich eben sehr stark in die Länge in Deutschland. Ein kleines Beispiel: In Deutschland, für Afghanen zum Beispiel - es braucht zehn Monate von der Antragstellung bis zur Anhörung, und dann noch mal 13 Monate von der Anhörung bis zur Entscheidung. Diese Liegezeiten, sage ich jetzt mal, wo nichts passiert, die kann man reduzieren. Und das machen die Schweizer in diesen Bundeszentren, übrigens ein Hinweis darauf: Die Deutschen sind ja schon dabei, von der Schweiz auch zu lernen. Es gibt bereits jetzt einige Ankunftszentren, so heißt das in Deutschland, in Baden-Württemberg in Heidelberg zum Beispiel, da sollen auch beschleunigte Verfahren durchgeführt werden.
    Zurheide: Gehen Sie mal unterm Strich davon aus - es hat ja Kritik gegeben auch gestern von Pro Asyl und anderen, die gesagt haben, was Sie da vortragen, würde den Rechtsschutz gefährden können. Was halten Sie denen noch mal entgegen?
    Kober: Wenn man sich anschaut - ich glaube, die Pressemitteilung hat nicht so ganz verstanden, dass wir ja genau auf diesen Rechtsbeistand in der Schweiz hingewiesen haben. Wir haben gesagt, die Schweiz zeigt, dass man eben zwischen Beschleunigung und Qualität, Rechtsschutz, eine Balance finden kann. Und das ist eben das Besondere der Schweiz. Ich fand interessanter die Reaktion dann aus dem BAMF, wo gesagt wurde, das wäre für - Aufwand und Kosten stünden nicht in einem Verhältnis miteinander, wenn man jetzt kostenlose Rechtsbeistände einbeziehen würde. Aber das ist eben, muss man wirklich sehen, ob jetzt die Beschleunigung durchgeführt wird dadurch, dass sie keine Rechtsbeistände hat, ob sie dann nicht in eine Klagewelle gründet, gegen Bescheide, die die Verfahren dann doch wieder verlängern.
    "Man muss Rechtsschutz gewähren"
    Zurheide: Auf der anderen Seite, muss man nicht auch noch mal die Frage in Deutschland stellen, wir reden immer über Asyl als Möglichkeit zuzuwandern. Wenn wir ein Zuwanderungsgesetz hätten, wäre möglicherweise, würden nicht so viele durch den Asylweg gehen. Ist diese These richtig?
    Kober: Die These ist in Ansätzen sicherlich richtig. Wir haben in Deutschland oder in Europa zwar mittlerweile Wege für die Hochqualifizierten, nach Europa zuzuwandern aus Drittstaaten, allerdings gibt es diese Wege nicht für die Niedrigqualifizierten. Und das ist natürlich eine Debatte, die man führen muss, weil man muss natürlich auch darauf achten, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt in den Ländern bewahrt bleibt. Das sieht man jetzt auch, dass rechtspopulistische Kräfte überall stark werden. Es gibt eine gewisse Akzeptanz in der Bevölkerung oder eigentlich eine hohe Akzeptanz bezüglich hochqualifizierter Zuwanderung. Was die niedrigqualifizierte Zuwanderung angeht, da gibt es diese Akzeptanz teilweise noch nicht. Man kann aber deutlich machen, dass auch im niedrigqualifizierten Bereich eigentlich in den europäischen Ländern, auch in Deutschland, auch wegen des demografischen Wandels auch Bedarf ist für Arbeitskräfte.
    Zurheide: Was wäre Ihr konkreter Hinweis an die Handelnden in Berlin?
    Kober: Man muss beschleunigen, vor allen Dingen auch muss der Bund die Kommunen entlasten, das ist ganz wichtig. Aber bei aller Beschleunigung muss man natürlich auch die Balance halten. Man muss Rechtsschutz gewähren, man muss den Ansprüchen der Genfer Flüchtlingskonvention gerecht werden.
    Zurheide: Das war Ulrich Kober von der Bertelsmann-Stiftung, der sich mit seiner Stiftung mit den Kollegen angeschaut hatte, was können wir möglicherweise von der Schweiz lernen - offensichtlich das eine oder andere. Ich bedanke mich heute Morgen für das Gespräch. Auf Wiederhören, Herr Kober!
    Kober: Auf Wiederhören!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.