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Thessaloniki
"Jerusalem des Balkans"

Nirgendwo sonst gab es ein so lebendiges jüdisch-sephardisches Leben wie im griechischen Thessaloniki. Jüdische Gemeinden haben die Stadt mehr als 2.000 Jahre lang geprägt – bis die Nationalsozialisten ihre Mitglieder fast völlig auslöschten. Heute gibt es wieder eine aktive Gemeinde.

Von Hans Stallmach | 19.04.2017
    Ein großer, zylinderartiger Bau - hierbei handelt es sich um ein Architekturmodell für das geplante Holocaust-Mahnmal in Thessaloniki.
    Ein großer, zylinderartiger Bau: das Modell für das geplante Holocaust-Mahnmal in Thessaloniki. (Deutschlandradio / Hans Stallmach)
    Freitagabend im Zentrum von Thessaloniki: Die Synagoge der jüdischen Gemeinde füllt sich langsam mit Menschen aller Altersstufen. Hier kennt jeder jeden: Man grüßt sich, man hält vor Beginn der Zeremonie noch einen kleinen Plausch. Für die Kinder ist in einer Ecke ein Tisch mit Süßigkeiten gedeckt.
    Gebetet wird auf Hebräisch. Die Gesänge aber, die der Rabbiner anstimmt, folgen spanischen Melodien, die Texte sind auf Ladino – der alten Sprache der sephardischen Juden. Als Sepharden bezeichnet man jene Juden, deren Vorfahren vor mehr als 600 Jahren von der spanischen Halbinsel vertrieben wurden. Zur Gemeinde gehört auch Lily Angel: Die Mittvierzigerin erzählt, dass sie in Thessaloniki geboren wurde und ihr ganzes Leben in der Stadt verbracht hat.
    "Für mich ist es schön, in Salonicco zu leben. Es gibt hier keinen Judenhass. Ich bin stolz darauf, hier geboren zu sein. Ich habe hier keine Probleme und fühle mich wohl. In unserer Gemeinde helfen wir uns gegenseitig. Es gibt einen starken Zusammenhalt."
    "Die Vergangenheit hält uns zusammen"
    Lily Angel arbeitet ehrenamtlich im kleinen jüdischen Museum Thessalonikis, nur wenige Straßenzüge von der Synagoge entfernt. Das Museum ist eine der zahlreichen Initiativen der Gemeinde: Es gibt eine jüdische Grundschule, in der Hebräisch gelehrt wird. Die Gemeinde unterhält ein Jugendzentrum, einen jüdischen Kultur-Klub, ein eigenes Altersheim und den Sport-Verein "Macabee". Auffällig sind die vielen sozialen Projekte: Etwa Zuschüsse für sozial schwache Familien oder Stipendien für junge Gemeindemitglieder.
    Wichtig für das Selbstverständnis der rund 1.500 Mitglieder zählenden Gemeinschaft ist aber nicht nur die Gegenwart, sagt Lazarios Zefiha, stellvertretender Vorsitzender der jüdischen Gemeinde Thessalonikis:
    "Das, was uns vereint und zusammenhält, ist die Vergangenheit, nicht so sehr die Religion. Sicher, wir sind orthodoxe Juden, aber das, was uns wirklich verbindet, das ist unsere Geschichte."
    Denn: die Geschichte Thessalonikis ist einzigartig in der jüdisch-sephardischen Welt. Nirgendwo sonst ließen sich so viele aus Spanien vertriebene Juden nieder wie im damals osmanischen Thessaloniki. Ende des 19. Jahrhunderts stellten die Sepharden rund die Hälfte der Bevölkerung, Griechen und Türken waren dagegen Minderheiten. 31 Synagogen gab es in der Stadt, sowie zahlreiche jüdische Schulen. Die Bibliotheken besaßen Handschriften von Maimonides und anderen jüdischen Gelehrten. Die Talmud-Akademie "Tora Hagadol" machte die Stadt zum religiösen Zentrum des gesamten sephardischen Judentums. Damals entstanden für Thessaloniki die Begriffe "Jerusalem des Balkans", sowie "Mutter Israels".
    Mehr als nur ein Museum
    Diese blühende Gemeinschaft wurde von den Nationalsozialisten 1943 vollständig vernichtet: 50.000 Menschen, fast die gesamte jüdische Bevölkerung der Stadt, wurden in Vernichtungslager deportiert und ermordet. Alle jüdischen Einrichtungen, die Friedhöfe, die Synagogen wurden zerstört. Eine jahrhundertealte Kultur wurde in wenigen Monaten ausgelöscht.
    Nach dem Krieg, sagt Lazarios Zefiha, legte sich ein Schweigen über die Stadt.
    "Die wenigen, die aus den Vernichtungslagern zurückgekehrt sind, wollten nicht von den eigenen Erfahrungen berichten, auch nicht gegenüber den eigenen Leuten. Sie wollten keine Wunden aufreißen. Die Rückkehr war für sie auch besonders schwierig: ohne Familien, ohne Kinder. Und: viele hatten auch Schuldgefühle, dass sie die einzigen Überlebenden waren."
    Unmittelbar nach der Befreiung gründeten einige Hundert Überlebende eine kleine neue jüdische Gemeinde. Aber: Man blieb unter sich, trat in der Öffentlichkeit kaum auf. Das änderte sich erst mit der nächsten Generation junger Gemeindemitglieder.
    "Langsam, langsam machten wir kleine Schritte. Die jüdische Vergangenheit der Stadt kam wieder in den Blick. Die Geschichte der jüdischen Gemeinschaft ist auch die Geschichte der Stadt."
    Daran soll nun ein Großprojekt erinnern: das "Holocaust Memorial & Human Rights Educational Center". Geplant ist ein gut 32 Meter hoher, kreisrunder Turm, der auf sechs Etagen ein Museum sowie ein Bildungszentrum beherbergen soll. Mit 10 Millionen Euro will sich Deutschland beteiligen. Im Büro von Lazarios Zefiha steht schon ein Modell des Zentrums.
    "Das ist kein reines Museum; da geht es nicht nur um Geschichte. Es wird ein Bildungszentrum. Es soll nicht nur vom Holocaust gesprochen werden, sondern von Menschenrechten und von allen Formen des Rassismus, die es gab und gibt."
    Bedrohte Sprache
    Insgesamt leben heute nur noch 4.000 Juden in Griechenland, neben Thessaloniki vor allem in Athen. Thessaloniki ist aber nach wie vor führend, schon aufgrund des historischen Gewichtes, das durch das geplante neue Zentrum noch einmal unterstrichen werden dürfte.
    Ein Aspekt der jüdischen Vergangenheit Thessalonikis aber wird wohl für immer verloren sein: Die traditionelle Sprache der griechischen Sepharden, das Ladino. Es wurzelt im Spanischen des 15. Jahrhunderts und wurde später in den sephardischen Gemeinden konserviert. Heute ist das Ladino nur noch in den Gesängen des Rabbiners lebendig – und in der Erinnerung der Gemeindemitglieder.
    "Ladino ist die Sprache, die meine Eltern zu Hause gesprochen haben, etwa wenn die Kinder etwas nicht verstehen sollten. Wir tun alles, um diese Sprache zu erhalten. Wir haben vier Kongresse organisiert. Einer hatte den Titel: 'Eine Sprache auf der Suche nach seinem Volk'."