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Ruhe nach dem Daueralarm
Wie sich Borderline heilen lässt

Borderline galt lange als grundlegende Störung der Persönlichkeit. Eine Therapie schien über das schlichte Krisenmanagement hinaus wenig ausrichten zu können. Doch jetzt verdichten sich die Hinweise, dass sich die auffällig veränderten Hirnaktivitäten wieder normalisieren können. Vieles spricht dafür: Die Borderline-Persönlichkeitsstörung ist heilbar.

Von Wibke Bergemann | 30.04.2017
Abbildungen eines Gehirns werden am Montag (12.12.2011) bei dem Patientensymposium "Sechs Monate nach EHEC/HUS - Erkrankung: was geht - was bleibt?" im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) in Hamburg bei einem Vortrag gezeigt. Ärzte und Mediziner informierten im Rahmen des Symposiums über die Auswirkungen der EHEC-Epidemie und diskutieren mit Betroffenen und Angehörigen über ihre Erfahrungen mit der Epidemie.
Durch Gehirn-Scans von Borderlinern begreifen Neuropsychologen immer besser, wo die Störung ihren Anfang nimmt (picture alliance / dpa / Bodo Marks)
"Dann gab es eben ein winziges Detail, das jemand gesagt oder gemacht hat. Und das konnte halt in Minuten umschlagen in ganz große, innere Verzweiflung."
"Also, Borderline ist ein Grauen, das sich keiner vorstellen kann. Und da, wenn ich nicht muss, möchte ich nicht in diesen See hinabtauchen müssen. Und ich weiß, dass meine Schwester dort ihr Leben verbringt. Und das ist furchtbar."
"Man hat als Kliniker immer die Perspektive gehabt, Persönlichkeitsstörungen sind mehr oder weniger stabil. Wir haben das Modell des Schiffes, das eine unterschiedlich lange Ankerkette hat und das einzige, was wir machen können, ist irgendwie, dass es ein bisschen weiter von dem Anker wegkommt. Und der Perspektivwechsel ist, dass wir uns überhaupt mit der Frage beschäftigen, gibt es diese Remission und wie können wir sie erreichen."

"Im Sommer 2006 habe ich tatsächlich selber gemerkt, irgendwas läuft hier schief."
Da ist Mila 26, eine zierliche Frau mit langen rot-blonden Haaren. Worunter sie am meisten leidet, sind Männer, immer wieder Männer. Reihenweise, wahllos. Für eine kurze Zeit ist der einer alles in ihrem Leben, jedes Mal ist es die ganz große Liebe. Sie sucht Nähe, die sie eigentlich gar nicht aushalten kann. Nach ein paar Wochen, spätestens nach ein paar Monaten ist alles wieder vorbei.
"Es gab auch immer wieder Situationen, wo ich total angespannt war und wütend und gesagt habe, lass mich allein, ich will nicht reden. Und er das ernst genommen hat und gesagt hat, okay, ich lass dich allein. Und dann aber da saß, völlig verzweifelt, wie kannst du mich so allein lassen, in so einem Zustand. Das ist einfach die Ambivalenz in mir. Der andere weiß überhaupt nicht, wo vorn und hinten ist, weil ich innerhalb von zwei Minuten sage, 'hau ab, aber bitte geh nicht', und … ganz schlimm."
"Anspannung, höchste Anspannung"
Jedes Mal, wenn ein Mann ihre Wohnung verlässt, und sei es auch nur, um nach Hause oder zur Arbeit zu gehen, empfindet sie dieses extreme Gefühl des Verlasssenwerdens. Mila erinnert sich an die Bekanntschaft aus Ulm, eine Wochenendaffäre, der sich von ihr verabschiedete mit den Worten, "lass uns Freund bleiben".
"Das ist Anspannung, höchste Anspannung, wenn ich nicht mehr weiß, was ich da mache…. Also das hat was Zwanghaftes, was Getriebenes. Das hat nichts mit rationalen Überlegungen, ich könnte es ja noch mal versuchen, und wenn nicht, dann fahre ich wieder. Sondern, ich muss den jetzt überzeugen, sonst überlebe ich das hier nicht."
Von Panik erfasst fährt Mila ihm hinterher, 600 Kilometer nach Ulm, ohne auch nur einen Moment lang zu überlegen. Dann steht sie in der Nacht vor seinem Haus, aber er macht nicht auf - zum Glück, sagt sie heute. Als Mila wieder denken kann, wird ihr klar, dass ihr Verhalten nicht gesund ist. In der Psychiatrie wird ihr Verdacht bestätigt: Sie leidet an einer Borderline Persönlichkeitsstörung.
Eine Störung der Kontrolle oder des Filterns von Gefühlen
"Es ist eine Emotionsregulationsstörung." Also eine Störung der Kontrolle oder des Filterns von Gefühlen. "Das ist so, dass bei einem kleineren Auslöser eine stärkere Emotion ist, die langsamer abklingt, aber auch schneller wieder in eine andere Emotion umschlagen kann. Also, stark ausgeprägte negative Emotionen, aber auch positive, die stärker ausgeprägt sind als bei Gesunden, die schneller ausgelöst werden als bei Gesunden", erklärt Stefan Röpke, Psychiater an der Berliner Charité.
"Der zweite Teil der Krankheit ist, dass die meisten Auslöse-Situationen soziale Situationen sind. Die Patienten haben wahrscheinlich in bestimmten Momenten Schwierigkeiten, andere zu verstehen, was die denken, was die fühlen, für Absichten haben."

Die unvermittelten, heftigen Gefühle von Borderlinern lassen sich sogar messen. In den letzten zehn Jahren konnte die Hirnforschung per Bildgebung die typischen Auffälligkeiten im Gehirn sichtbar machen.
"Wir haben durch neurobiologische Untersuchungen herausgefunden, dass Patienten sich schneiden, um die unterdrückte Konnektivität zwischen präfrontalen Arealen und limbischem System kurzfristig zu aktivieren. Das ist so, wie wenn man einen sehr starken Motor hat und sehr schwache Bremsen."
Schmerzen, um Gefühle zu bremsen
Martin Bohus arbeitet am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Mannheim. Der "sehr starke Motor" – das ist das limbische System, zu dem unter anderem Amygdala und Hippocampus gehören. Hier entstehen Gefühle wie Angst. Borderliner zeigen im limbischen System eine besonders hohe Aktivierung, eine besonders schwache dagegen im präfrontalen Kortex, der die starken Gefühle eigentlich kontrollieren und bremsen soll. Bis zur hochtourigen Amygdala im ständigen Alarmzustand dringen die schwachen Bremsen kaum durch, es sei denn die Bremsen werden durch Schmerzen verstärkt. Verletzungen, die Borderliner sich häufig selbst zufügen, haben genau diese Funktion.
Auch in anderen Regionen scheint das Gehirn von Borderlinern anders zu reagieren als bei Gesunden. Die Bilder aus dem Gehirn reichen bislang nicht, um eine Borderline-Störung sicher zu diagnostizieren. Aber sie helfen, sie besser zu verstehen. Zudem liefern sie Hinweise, dass sich die veränderten Hirnfunktionen wieder normalisieren können.
Eine Therapie schien wenig ausrichten zu können
"Das hat natürlich Einfluss auf die Psychotherapie, vor allem aber auch auf die Einstellung den Patienten gegenüber, den Eltern gegenüber, insgesamt in der therapeutischen Community. Bis die Neuropsychologie begonnen hat, sich durchzusetzen, war das ein psychodynamisches Konstrukt, das davon ausging, dass es irgendwie eine seltsam geartete Entwicklungsverzögerung war mit Problemen in der Subjekt-Objekt-Differenzierung und ähnlichen Konstrukten, die sich spannend lesen, aber keinerlei fundierten Nachweis haben. Und jetzt, wo man weiß, da gibt‘s neurobiologische Korrelate, fängt man tatsächlich an, die tatsächlich fundierter zu verstehen."
Ein besseres Verständnis, das bedeutet letztendlich auch bessere Behandlungsmöglichkeiten, gerade bei Borderline. Denn lange Zeit ging die Psychologie von einer grundlegenden Störung der Persönlichkeit aus, tief verankert in der Person, mit wenig Chancen auf Heilung. Eine Therapie schien über das schlichte Krisenmanagement hinaus wenig ausrichten zu können.

"Das Anzeichen, dass es soweit ist, war, dass ich ranging und sie sagte, "Hallo" (mit weinerlicher Stimme). Und dann wusste ich, wir machen jetzt Therapie."
Doreen ist Milas jüngere Schwester. In den letzten zehn Jahren hat sie Mila durch die Krankheit begleitet. Es gab Zeiten, da haben die beiden fast jeden zweiten Abend miteinander telefoniert, stundenlang. Doreen erlebte, wie Mila in ihrem Beruf als IT-Beraterin gut funktionierte und dabei viel Geld verdiente. Dann aber immer wieder ausbrach und wie von einer fixen Idee getrieben Dinge tat, die sie anschließend bereute.
"Früher war es halt so, immer wenn ich den Überblick über mein Konto verloren habe, oder noch schlimmer, wenn der Gedanke da war, oh, das sieht gerade nicht gut aus, desto mehr habe ich ausgegeben. Je mehr ich das Gefühl hatte, da ist nichts mehr, desto mehr habe ich es rausgeworfen."
Viele Symptome wie bei anderen Persönlichkeitsstörungen
"Und die nächste Woche kam dann der Anruf, ich kann die Miete nicht bezahlen. Und da fühlt man sich natürlich immer wie so‘ne Geldmaschine. Es kam der Tag, an dem ich gesagt habe, du kriegst das Geld nicht. Und dann merkt man, wie sie aggressiv wird und das Geld jetzt braucht. Das ist wie so ein Drogenabhängiger, der nichts anderes mehr sieht, als dass er jetzt das Geld braucht. Weil schon irgendwas im Kopf rumgespukt ist, wovon sie mir nichts erzählen wollte."
Viele Symptome von Borderline finden sich auch bei anderen Persönlichkeitsstörungen. Häufig ist es daher schwierig, die verschiedenen Störungen voneinander abzugrenzen. Hinzu kommt, dass viele Borderliner zusätzlich an Depressionen leiden, an Angststörungen oder Drogenabhängigkeit. So wird derzeit kontrovers diskutiert, welche Kriterien für Borderline in das Klassifikationssystems für Krankheiten der Weltgesundheitsorganisation, ICD, aufgenommen werden sollen. Das ebenfalls international verwendete DSM-Handbuch der American Psychiatric Association nennt aktuell neun Symptome:
  • die Angst vor dem Verlassenwerden
  • instabile Beziehungen zu anderen
  • ein instabiles Selbstbild
Schätzungsweise 2,5 % der Bevölkerung sind betroffen. Bei den 15-Jährigen ist der Anteil am höchsten.
  • selbstschädigendes Verhalten in Bezug auf Geldausgeben, Sexualität, Drogen, oder Essen
  • wiederholte Selbstmordabsichten und selbstverletzendes Verhalten
  • schnelle Stimmungswechsel
Möglicherweise steigt die Zahl der Betroffenen sogar: Kinder- und Jugendpsychiater berichten von immer mehr Selbstverletzungen bei ihren Patienten.
  • ein chronisches Gefühl der Leere
  • heftige Wutanfälle
  • dissoziative Zustände, also das Gefühl, nicht man selbst zu sein
Einzelne Symptome kennen die meisten Menschen von sich selbst. Doch erst wenn sie eine kritische Schwelle übersteigen und mindestens fünf Merkmale zusammenkommen, gilt das als Erkrankung. Die Übergänge sind fließend.
Am Mannheimer Zentralinistut für seelische Gesundheit liegt eine Frau im Kernspintomographen, der ihre Hirnaktivitäten aufnimmt. Gleich um die Ecke, in einem Nebengebäude eine weitere Röhre mit einer zweiten Probandin. Beide Frauen sind über ein Videobild miteinander verbunden – sie können sich sehen, aber nicht hören. Gemeinsam sollen sie eine einfache Aufgabe bewältigen. Immer wenn der Versuchsleiter einer Frau ein Signal auf eine der vier Bildschirmseiten spielt, muss sie per Augenbewegung mitteilen, wo sie das Signal sieht. Die Aufgabe ist bewältigt, wenn ihre Mitspielerin verstanden hat und ihren Blick in die gleiche Richtung wendet.
"Das ist ja etwas, das schon Babys lernen. Wenn sie ihre Mutter angucken und die guckt woanders hin, dann folgen Babys diesem Blick. Deshalb glauben wir, das ist eine der ganz, ganz frühen, ganz, ganz basalen Formen sozialer Interaktion. Aber sie ist trotzdem ganz wichtig, damit wir ein Gefühl davon haben, wir teilen im Moment unsere Umwelt, weil wir gemeinsam auf das gleiche Objekt gucken."
Hirnfunktionen scheinen sich zu normalisieren
Der Psychologe Peter Kirsch und sein Team verfolgen, was in den Gehirnen der beiden Frauen passiert. Dabei zeigt sich immer wieder das gleiche Muster: eine hohe Aktivität im tempo-parietalen Übergang, einer Region, in der Bewegung und Intentionen verarbeitet werden. Bei gesunden Frauen stimmen die Bilder aus den beiden Scannern sowohl im zeitlichen Verlauf als auch in der Intensität weitgehend überein. Kirsch spricht von einer Koppelung der Gehirne in diesem Moment. Die Bilder passen zusammen wie bei einem Memory-Spiel.
"Und bei Borderline-Patienten, zumindest bei akuten Borderline-Patienten ist die Kopplung nicht größer, als wenn es gar keine Interaktion gegeben hätte. Also, wir sehen sozusagen einfach keine Kopplung. Wahrscheinlich ist das eine der neuronalen Grundlagen für das gestörte Verhältnis von Borderlinern zu anderen Menschen."
Eine Überraschung erleben die Hirnforscher, als sie ehemalige Patienten an dem Versuch beteiligen. Im Alltag leiden sie kaum mehr unter den typischen Borderline-Symptomen. Und tatsächlich gleichen auch ihre Hirnscans denen gesunder Probandinnen. Ihre Hirnfunktionen scheinen sich in diesem Bereich normalisiert zu haben.

Spannendes beobachtete auch eine Forschergruppe an der Universität Heidelberg. Hier wurden mit dem EEG die Hirnströme von Borderline-Patientinnen gemessen, während sie visuelle Reize verarbeiteten. Der Versuchsaufbau war relativ einfach. Den Probanden wurden Gesichter auf einem Computerbildschirm gezeigt, die Freude oder Ärger oder beides zeigten.
"Die haben zwei Tasten am Computer, ich glaub, es sind die Pfeiltasten. Die legen die Finger drauf und müssen einfach nur sagen, dieses Gesicht kommt mir ärgerlich vor oder dieses Gesicht kommt mir fröhlich vor und einfach eine Taste für ärgerlich drücken oder eine für fröhlich. Es gibt kein richtig oder falsch, sondern, das ist meiner Meinung nach ärgerlich und das ist fröhlich", erklärt die Neuropsychologin Katja Bertsch.
Der Versuch verdeutlicht, wie stark die negativen Erwartungen von Borderlinern gegenüber anderen Menschen sind. Weitaus häufiger als gesunde Probanden nahmen sie Ärger in den Gesichtern wahr. Selbst bei einem eindeutigen Lächeln drückten zehn Prozent der Borderliner den "ärgerlich"-Knopf.
Visueller Reiz versetzt Borderliner in Alarmbereitschaft
Bei den EEG-Messungen interessieren sich Bertsch und ihre Kollegen vor allem für drei Zeitpunkte: Den ersten Ausschlag nach circa 100 Millisekunden im visuellen Kortex – das Gehirn registriert hier einen ersten Sehreiz: "Da ist etwas". 70 Millisekunden später beginnt das Gehirn, die Strukturen eines Gesichts zu erfassen. Nach etwa 300 Millisekunden wird dann das Gesicht eingeordnet: Zu wem gehört es, welche Gefühle zeigt es?
Im Versuch schlug das EEG besonders hoch aus nach 100 Millisekunden, also in der frühen Verarbeitung. Allein der visuelle Reiz versetzt Borderliner offenbar schon in Alarmbereitschaft. In der späteren Verarbeitung fielen deren Hirnströme dagegen schwächer aus als bei der gesunden Kontrollgruppe – für die Bewertung der Gesichter brauchen Borderliner mehr Zeit und machen häufiger Fehler.
"Unsere Vermutung ist, dass durch diese erste erhöhte Aktivierung in den visuellen Arealen eben diese weitere Verarbeitung blockiert wird oder schlechter möglich ist. Also, wenn man sich mal vorstellt, wenn man total Angst hat und man ist total on alert und alles ist ganz schlimm. Kann ich dann tatsächlich noch alles um mich herum detailliert wahrnehmen? Nein, ich bin so fokussiert auf das Angst Machende, oder auf mich selbst, dass ich die Details gar nicht mehr wahrnehmen kann. Und ich könnte mir vorstellen, dass hier etwas ganz Ähnliches passiert."
Überempfindlichkeit scheint nachgelassen zu haben
Wie die Mannheimer wiederholten die Heidelberger Forscher den Versuch erstmals auch mit ehemaligen Patienten, die soweit gesundet waren, dass sie medizinisch nicht mehr als Borderliner galten. Auch ihnen wurden Bilder gezeigt, während ihre Hirnströme gemessen wurden. Besonders spannend: In der ganz frühen Reaktion nach 100 Millisekunden unterschieden sie sich nicht mehr von gesunden Probanden. Die Überempfindlichkeit gegenüber möglichen Bedrohungen schien nachgelassen zu haben. Auch die spätere visuelle Verarbeitung hatte sich verbesser, allerdings nicht so stark.
"Das Erfreuliche ist eigentlich, dass diese frühen Prozesse remittieren. Weil das ist ja etwas ganz Schnelles, Automatisches."
Offenbar kann die Therapie die grundlegenden Hirnfunktionen verbessern, die sich nicht bewusst kontrollieren lassen. Es sind diese ersten Überreaktionen, die wahrscheinlich die nachgeschalteten Fehlfunktionen auslösen. Deswegen könnten gerade sie der Schlüssel für die Gesundung sein.

Die Studien mit ehemaligen Patienten machen Hoffnung, haben aber ein Problem: Die Hirnfunktionen wurden im Nachhinein, nicht aber im akuten Zustand gemessen. Es wäre also denkbar, dass es den Betroffenen vor der Therapie zwar sehr schlecht ging, ihre Hirnaktivitäten aber zu diesem Zeitpunkt schon vergleichsweise wenig verändert waren, und dass sie gerade deswegen gesunden konnten. Mit anderen Worten: Möglicherweise zeigen die Studien nicht das Ergebnis einer Gesundung, sondern deren neuronale Voraussetzung. In Heidelberg werden nun Vorher-Nachher-Studien durchgeführt, um die Ergebnisse zu überprüfen.
Ausgelöst durch erbliche und psycho-soziale Faktoren
Wie bei anderen psychischen Erkrankungen deutet viel darauf hin, dass die Störung durch erbliche und psycho-soziale Faktoren ausgelöst wird. Borderliner kommen wahrscheinlich schon mit einer besonderen Empfindlichkeit auf die Welt, reagieren dann empfindlicher auf das, was sie erleben. Viele berichten davon, dass sie in ihrer Kindheit Vernachlässigung oder Gewalt erlebt haben. Schätzungsweise 65 Prozent wurden sexuell missbraucht. Doch nicht immer ist die Verletzung so offensichtlich.
"Dieses kleine Kind, das ich aber eigentlich war, habe ich in irgendeiner Ecke verstaut und nicht mehr gesehen. Und das trägt sicher zu der Leere bei, wenn Du einen ganz wichtigen Teil deiner Identität wegstecken musst und dann jahrelang da nicht mehr hingucken kannst, weil das mit schlimmen Gefühlen verbunden ist. Und dann entsteht da so ein großes, schwarzes Loch."
Mila hat kaum Erinnerungen an ihre Mutter: eine Frau ohne Interesse für ihr Kind und innerlich abwesend. Auch ihr Vater war nicht für sie da, sondern verlangte umkehrt, dass das sie für ihn da sein sollte.
"Also eigentlich ist es eine Vernachlässigung von der Seite meiner Mutter und ein Missbrauch von der Seite meines Vaters. Denn meine Eltern waren schneller in der Beziehung nicht mehr so richtig miteinander. Und mein Vater hat sich dann einen anderen emotionalen Ansprechpartner gesucht, und das war ich dann, aber ich war ein Kind. Und letztendlich ist dann zusammengebrochen, als mein Vater sich andere Frauen außerhalb der Ehe suchte, und da ging es dann nämlich mir schlecht, ich habe ihm Vorwürfe gemacht und nicht meiner Mutter."
Therapien müssen auf die Störung zugeschnitten sein
"Das wissen wir heute, und können heute sagen, wir sind nicht schuld. Aber wir haben uns beide sehr lange gefragt, was wir wohl falsch gemacht haben, dass die Mutti uns nicht lieb hat. Und warum wir dafür sorgen müssen, dass es ihr gut geht. Und das ist heute noch so."
Das ist im Übrigen auch der Grund, warum die beiden Schwestern im Radio nur mit Pseudonym erscheinen wollen – um ihre Eltern zu schützen.
In der Behandlung von Borderline zeigen immer mehr Studien, dass Therapien vor allem dann wirken, wenn sie auf die Störung zugeschnitten sind. Viel zu oft werden auch heute noch Borderliner in einer Klinik für Essstörungen oder wegen Selbstverletzungen in der Psychiatrie behandelt.
"Es gibt wirklich sehr gute qualitätsgeprüfte Zentren, die spezifisch ausgebildet sind, um mit Borderliner Patienten zu stationär arbeiten. Und dann gibt es natürlich eine Vielzahl von psychiatrischen Akutbehandlungen, die nach wie vor überfordert sind davon und die zwar gutmeinend und gutwillig aber primär für eine kurze stationäre Entlastung sorgen und dann ungewollt häufig die Problematik eher verstärken", sagt der Mannheimer Psychiater Bohus.
Vor allem zwei Therapieformen wirksam
Vor allem zwei Therapieformen haben sich in den letzten Jahren als wirksam erwiesen. Eine davon ist die Mentalisierungsbasierte Therapie. "Mentalisierung" bezieht sich dabei auf die Fähigkeit, zu erkennen, wie Wünsche, Vorstellungen und Gedanken zu Verhalten führen. Am Ende versteht der Borderliner sich und andere besser. Der Brite Peter Fonagy, der die Mentalisierungsbasierte Therapie mitentwickelt hat, erklärt sie so: "Ich denke, dass du denkst, dass ich denke, also bin ich."
"Wenn Sie sich in der Therapie einfach hinsetzen und zuhören, werden Sie wenig erreichen. Die Störung kann sogar schlimmer werden. Deswegen ist die MBT eine sehr aktive Intervention. Der Patient muss fühlen, dass er als Person erkannt wird, mit eigenen Wünschen, eigenen Gefühlen und eigenen Intentionen. Wenn der andere merkt, dass ich, der Patient, Kontrolle über meinen Verstand und meinen Körper habe, und mir das auch zeigt, dann kann ich ihm vertrauen. Und dann muss ich auch nicht mehr übermäßig wachsam sein."
Therapien mit guten Ergebnissen
Die deutschen S2-Leitlinien für Persönlichkeitsstörungen stufen nur eine Therapie als "spezifisch wirksam" ein: Die DBT, die Dialektisch-Behaviorale Therapie, die mittlerweile an 35 Kliniken durchgeführt wird - mit guten Ergebnissen. Der Psychiater Martin Bohus und seine Kollegen haben ehemalige Patienten 15 Jahre nach der Entlassung nach ihrem Befinden befragt: 70 Prozent führen nach eigenen Angaben ein sinnerfülltes Leben, rund 40 Prozent sind sogar ganz frei von Symptomen.
"Im wissenschaftlichen Sinn erfüllen diese 70 Prozent nicht mehr die Kriterien für eine Borderline Störung. Der Fachbegriff heißt, das ist eine Symptom-Reduktion. Aber wir waren uns ja lange Zeit unsicher, ob sich mit einer Symptomreduktion tatsächlich auch die Befindlichkeiten verbessern. Es kann ja sein, dass sich Symptome verschieben, dass ganz andere Probleme auftreten, dass wir die falschen Dinge messen. Und wir sind doch ganz zufrieden, dass offensichtlich eine relativ hohe Korrelation besteht, zwischen der Symptomreduktion und der Verbesserung der Lebenszufriedenheit."
Ein ganz starker Sinnesreiz gegen Emotionen
Im Zentrum der DBT steht das Skills-Training. Dabei werden Fertigkeiten geübt wie zum Beispiel innere Achtsamkeit oder der Umgang mit anderen Menschen. Auch Mila hat vor zehn Jahren die Therapie gemacht. Seitdem hat sie immer einen Notfall-Beutel dabei, mit allem was sie braucht, wenn panisch wird.
"Klimper, klimper (…) Kürzlich entdeckt und für sehr, sehr wertwoll befunden, gibt es hier Chilly-Gummibärchen. Das sind ganz scharfe Gummibärchen, die habe ich in so einer Box. (…)Das ist eine Idee aus dem Skillstraining, dass, wenn ich von Emotionen überflutet werde, dass dann ein ganz starker Sinnesreiz hilfreich sein kann, um mich selber wieder zu spüren. Es gibt ganz unterschiedliche Möglichkeiten. Es gibt diese Amoniak-Geschichte, da riechen Leute an Ammoniak. Und es gibt Gummibänder, die man sich auf die Haut schnipsen lassen kann. Das tut halt echt weh, damit bin ich dann erst mal beschäftigt, mit diesem Reiz und kann mich nicht mehr um die anderen Gefühlen kümmern."
Die DBT hat Mila geholfen, ihren Alltag zu bewältigen: zur Arbeit zu gehen und eine mehr oder weniger stabile Beziehung zu führen. Nach außen hin hatte sie sich im Griff und zeigte keine Symptome mehr. Das ging gut, bis Mila vor vier Jahren einen verheirateten Mann kennenlernte, in den sie sich heftig verliebte. Ihr neu gefundenes Gleichgewicht begann zu wanken.
In die dunklen Ecken im Inneren
"Und dann kam der Punkt, wo es dann hieß, und jetzt schauen wir aber auch hin zu den eigentlich zugrunde liegenden, im Kern ganz schlimmen Gefühlen. Und da ist dann wirklich existenzielle Bedrohung. Wenn deine Eltern dich nicht wahrnehmen und im Stich lassen und du bist ein kleines Kind bist, dann denkst du, du musst sterben. Und das waren die Gefühle, die angetriggert wurden, wenn er durch die Tür ging. Dann habe ich gedacht, ich überleb das hier nicht."
Mila hat sich noch einmal in ihre Kindheit begeben, in die dunklen Ecken in ihrem Inneren, die sie lange Zeit vor sich selbst verborgen gehalten hatte, um endlich zu verstehen, was die großen Schmerzen in ihr auslöste.
"Aber wenn sie ein ganzes Leben organisieren darum, dass all diese Emotionen auf keinen Fall aktiviert werden dürfen, dann können Sie keinen Job machen, weil Sie da immer irgendwie gedemütigt oder missverstanden werden. Sie können keine vernünftige Partnerschaft haben, weil immer die Gefahr ist, wenn sie sich wirklich in jemanden verlieben, dass sie den auch wieder verlieren können. Das heißt, die gehen mit einem Radarsystem durch die Welt, das immer sagt, wo droht eine von diesen Primärsituationen und das vermeide ich jetzt. Exposition heißt dann, wir bringen dem Gehirn bei, diese Emotionen sind heute überlebbar, tolerierbar. Und dazu müssen wir zurück, wie in der klassischen Traumaexposition, auf diese Basiserfahrung, und ihr vermitteln, schau, das war damals so, es war schlimm, aber heute ist es aushaltbar."
Unter Anleitung mit der Vergangenheit konfrontiert
Bohus und seine Kollegen an vier psychiatrischen Krankenhäusern in Deutschland sind dazu übergegangen, bei ihren Patientinnen so früh wie möglich das Trauma anzugehen. Nach einem dreiwöchigen Skills-Training geht es in die Exposition, bei der die Patienten unter Anleitung erneut mit der Vergangenheit konfrontiert werden. Bohus ist überzeugt, was bei Patientinnen mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung funktioniert, das hilft auch anderen Borderlinern.
"Insgesamt besteht die Gefahr, dass man zu lange den Fokus auf Überleben statt auf sinnerfülltes Leben richtet. Also, dass wir in der DBT insgesamt zu kurz greifen, dass wir zu lange auf Stabilisierung gehen, aber auf die grundlegenden emotionalen Muster nicht kommen. Und wir haben das jetzt durchexerziert mit der PTBS, dass es geht und dass es schnell geht und dass es tief greifend verändert und arbeiten jetzt daran, diese Erfahrung auf die gesamte Erfahrung der Borderline Patienten, nämlich diese zwischenmenschlichen traumatischen Erfahrungen, die nicht sexueller Missbrauch sind, zu übertragen und auch da mit Expositionsbehandlung zu arbeiten, und die ersten Daten schauen ziemlich gut aus, sodass wir denken, dass wir in zwei Jahren hier noch einmal einen Durchbruch erleben werden. Und ich glaube, dann haben wir große Probleme der Borderline Störung vielleicht gelöst."
Lücken in der ambulanten Versorgung
Noch vor zehn, 15 Jahren galt Borderline als kaum heilbar. Das hat sich geändert: Die neuropsychologische Grundlagenforschung bietet erste Bausteine für ein neuronales Modell der Erkrankung. Auch die Therapien entwickeln sich weiter. Entscheidend wird sein, dass die Erkenntnisse aus der Forschung möglichst flächendeckend umgesetzt werden. Während die psychiatrischen Stationen in den Krankenhäusern zunehmend eine spezifische Borderline Behandlung anbieten, klaffen in der ambulanten Versorgung weiterhin riesige Lücken. Der Dachbverband DBT etwa führt für ganz Deutschland knapp 60 niedergelassene Psychotherapeuten, die eine entsprechende Zusatzausbildung haben. Zu wenige, um Rückfälle zu verhindern.
Mila hat es inzwischen geschafft. Sie bezeichnet sich selbst als "trockenen Boderliner". Noch während der letzten Therapie hat sie eine Ausbildung zur Heilpraktikerin für Psychotherapie gemacht. Gemeinsam mit einem Kollegen coacht sie inzwischen selbst Menschen mit psychischen Problemen, auf Augenhöhe, mit dem besonderen Blick einer ehemaligen Betroffenen.
"Ein Teil von mir wird immer traurig sein und dürfen, das geht gar nicht weg. Andererseits ist es für uns aber ganz gut machbar, mit der Störung zu leben, ohne sagen zu müssen, ja, ich habe noch eine Störung. Ich habe noch Schwierigkeiten, aber wer hat keine? Ich würde nicht unterschreiben, dass man diese Erkrankung oder Störung eben hat und damit leben muss, für immer.
Deutschlandfunk 2017