Kritik an ultraorthodoxen Juden in Israel

"Sie sollen zur Armee gehen!"

Orthodoxe Juden beten an der Klagemauer in der Altstadt von Jerusalem.
Orthodoxe Juden beten an der Klagemauer in der Altstadt von Jerusalem. © AFP / Manahem Kahana
Von Sabine Adler · 22.11.2017
Rund 17 Prozent der israelischen Bevölkerung stammt aus Russland. Und obwohl sie schon seit vielen Jahren in Israel leben, fühlen sie sich als Bürger zweiter Klasse. Ihre Kritik richtet sich vor allem gegen die Ultraorthodoxen.
So enthusiastisch wie hier auf dem Flughafen Tel Aviv amerikanische Touristinnen begrüßt werden, empfing in den 1990er-Jahren niemand die Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion. Denn plötzlich kamen gleich 1000 am Tag, was Israel völlig überforderte. Die Startschwierigkeiten mit den inzwischen anderthalb Millionen russischsprachigen Immigranten legten sich zwar, doch vor allem in den religiösen Institutionen begegnet man ihnen noch immer mit großen Vorbehalten, sagt die Soziologin Larissa Remennick von der Bar-Ilan-Universität Tel Aviv, selbst Einwanderin aus Moskau:
"Ein sehr großer Teil der Russischsprachigen schaut auf das religiöse Establishment und das Rabbinat sehr skeptisch und kritisch, weil sie sich von ihnen diskriminiert fühlen. Sie seien unechte Juden, wenn der Vater Jude war, aber die Mutter nicht. Paradoxerweise wurden die Juden in der Sowjetunion, die einen jüdischen Vater, aber nicht eine jüdische Mutter hatten, sogar häufiger verfolgt. Sie fielen wegen ihres jüdischen Nachnamens und Vatersnamens viel mehr auf. Dort galten sie als Juden und hier nicht. Das finden sie erniedrigend, erst recht, wenn man ihnen vorschlägt, zum Judentum zu konvertieren, denn sie verstehen sich ja bereits als Juden."
Die Israeli hatten erwartet, dass mit den Russischsprachigen erstens Glaubensbrüder und -schwestern kommen und dass zweitens für sie Israel das Gelobte Land ist. Ein Trugschluss. Die allermeisten sind zwar auch vor dem Antisemitismus in der Ex-UdSSR geflohen, vor allem aber vor der wirtschaftlichen Not. In Länder wie Deutschland und die USA wären sie ebenso bereitwillig emigriert. Praktizierende Juden befanden sich in der absoluten Minderheit. Die meisten ehemaligen Sowjetbürger hadern mit der Rolle der Religion in Israel. Sie finden, dass die Ultraorthodoxen zu viel Macht haben und dass in einer modernen Demokratie Staat und Religion getrennt sein müssten. Die Soziologin Remennick, die die politischen Einstellungen und das Engagement der Russischstämmigen erforscht, sagt, dass die in den Ultraorthodoxen sogar eine Bedrohung für Israels Demokratie sehen. Sie selbst auch.
"Natürlich. Ich halte sie für eine sehr große Gefahr, der größte Teil der Russischsprachigen findet ihren Einfluss problematisch. Er ist überproportional groß, in der Knesset oder in der Regierung. Fast keine Koalition kommt zustande ohne die Ultraorthodoxen."

Ein Land ohne Verfassung

26 Jahre nach der großen Einwanderungswelle verschaffen sich die Russischsprachigen politisch Gehör. Und sie arbeiten daran, den Einfluss der Religion zurückzudrängen. Wie Xenia Swetlowa, Knesset-Abgeordnete von der oppositionellen mitte-links stehenden Zionistischen Union.
"Die Trennung von Kirche und Staat ist eng mit dem Kampf um eine Verfassung verbunden, die Israel bis heute nicht besitzt. Die Religion soll ihren Platz haben, dagegen sind wir nicht, aber sie darf nicht im Widerspruch zu den Menschenrechten stehen oder Chancen auf dem Arbeitsmarkt beschränken bzw. die gegenseitige Achtung in Frage stellen. Bislang wird allerdings über die Verfassung nur geredet. Ich hoffe, dass sie auch tatsächlich bald kommt."

Als "Schickse", also unreine Nichtjüdin, wird hier eine israelische Soldatin in Jerusalem beschimpft von wütenden ultraorthodoxen Demonstranten, die mit ihrer Straßensperre gegen den Armeedienst protestieren. Die Männer mit den Schläfenlocken in schwarzen Mänteln und schwarzen Hüten verweigern die Wehrpflicht, die bald auch für sie gelten soll. Sie bespucken die junge Soldatin stellvertretend für die Armee. Gewaltsame Zusammenstöße wie diesen gab es unlängst wieder öfter, sie sorgen in Israel für heftige Kritik von unterschiedlichen Seiten, vor allem von der großen russischsprachigen Minderheit. Die 29-jährige Tanja aus der Ukraine ist empört.
"Ich finde, dass sie sich nicht richtig verhalten, schließlich habe ich auch in der Armee gedient. Wenn es Israel weiter geben soll, muss man seinen Wehrdienst leisten. Diese Ultraorthodoxen betrachten sich nicht als Teil der Gesellschaft, wollen aber Vergünstigungen und Hilfen in Anspruch nehmen."
Ähnlich wie Tanja, die die regulären zwei Jahre Wehrpflicht hinter sich brachte, sieht es die gebürtige amerikanische Programmiererin Nomi Gutenmacher. Die 59-Jährige hat sieben Kinder, sie sind zwischen 21 und 33 Jahre alt, alle waren Soldaten. Ihr missfällt das Verhalten der Ultraorthodoxen.
Israelische Soldaten patroullieren an der nördlichen israelisch-libanesischen Grenze.
Ultraorthodoxe Juden sind vom Armeedienst befreit.© afp / Jack Guez

"Die Armee ist ein Schmelztiegel"

"Sie leben ein sehr einfaches Leben, okay. Aber auch das finanziert ihnen jemand und zwar unter anderem ich. Aber noch schlimmer finde ich das mit der Armee, dass sich meine Kinder in Lebensgefahr begeben, ihre aber nicht."
Auch Yael Bier sorgt sich um ihre beiden Söhne, die gerade dienen. Die 55-jährige Übersetzerin versteht sich als orthodoxe Jüdin, grenzt sich von den Ultraorthodoxen aber deutlich ab und wird grundsätzlich:
"Mein Vater sagte mir immer: Eine Religion, die sich abschottet von der Welt, ist keine Religion."
Der Zahl der Ultraorthodoxen in der israelischen Gesellschaft ist auf 800.000 gestiegen. Damit gibt es immer mehr Männer, die trotz ihrer meist sehr vielen Kinder, die sie haben, nicht arbeiten, sondern fast ausschließlich die Thora studieren und sich deshalb als die echten Bewahrer des jüdischen Glaubens verstehen. 1949, als Israel knapp ein Jahr alt und Ben Gurion Verteidigungsminister war, ersparte er ihnen den Dienst an der Waffe. Doch damals handelte es sich nur um etwa 400 Mann. Mit der Ausnahme soll in einem Jahr Schluss sein, laut einer Verfügung des Obersten Gerichts. Das hat früher schon ähnlich entschieden, womit fraglich ist, ob die Wehrpflicht für junge Ultraorthodoxe tatsächlich umgesetzt wird. Oder ob für Thoraschüler andere Wege gefunden werden.
Zev Cychowicz bezeichnet sich als Haredi, also als strenggläubigen Juden. Zu erkennen an seinem breitkrempigen Hut, dem langen Bart. Als Vater von zehn Kindern lehnt er die Wehrpflicht strikt ab, was vor allem am Charakter der israelischen Armee liege.
"Die Armee ist ein Schmelztiegel. Genau aus diesem Grund wollen wir Ultraorthodoxen nicht dorthin. Denn da kämpfen Soldaten aus ganz verschiedenen Bevölkerungsgruppen Schulter an Schulter und ein hoher Prozentteil unserer Jungen wird von der Armee ohne ihre Kippa zurückkehren."
Zev Cychowicz ist 52 Jahre alt, hat ebenfalls nicht gedient, obwohl er schon mit 17 Jahren von den Vereinigten Staaten nach Israel kam. Seiner Meinung nach wäre eine Freiwilligenarmee ein Ausweg. Die müsste keinesfalls schlechter sein, wenn man nur die Besten nähme und sie würde weniger kosten, weil das Berufsheer kleiner wäre.

Heiraten nur mit Erlaubnis

Die vom weltlichen Leben weitgehend abgeschotteten ultraorthodoxen Juden machen inzwischen rund zehn Prozent der israelischen Bevölkerung aus. Die russischsprachigen Einwanderer 17 Prozent. Die verließen die Sowjetunion meist kurz vor oder direkt nach deren Zerfall und durften enge Angehörige mitbringen. Doch wer von ihnen als echter Jude anerkannt wird und somit in Israel heiraten und beerdigt werden darf, entscheidet das Rabbinat, ein Religionsgericht. Zev Cychowicz erklärt an einem Fall, wie eine solche Prüfung abläuft.
"Jemand aus Russland wollte ein jüdisches Mädchen heiraten und musste dafür Dokumente vorlegen, die beweisen, dass er Jude ist. Das Rabbinat hat Experten, die in Russland geboren sind, Russisch sprechen und erkennen, ob die Dokumente echt sind. Sie fragen nach dem Mädchennamen der Mutter, ihrer Herkunft, welchen jüdischen Traditionen die Familie folgte und bitten, die Mutter beim nächsten Mal mitzubringen. Das Rabbinat sagt: ‚Wir tun unseren Job und müssen davon überzeugt sein, dass jemand wirklich jüdisch ist.‘"
Wer den Test nicht besteht, muss außerhalb Israels heiraten, eine standesamtliche Eheschließung ist im Land bislang unmöglich, eine Beerdigung für Nichtjuden schwierig. Deswegen fühlen sich viele Russen als Bürger zweiter Klasse, sagt die Soziologin Remennick.
"Wir sind für sie keine echten Juden und sie sehen uns nur als Bedrohung und Gefahr. Vor allem, weil das Konvertieren zum Judentum nicht funktioniert, denn man kann nicht 300.000 Juden in diese orthodoxe Prozedur zwingen. Das ist ja keine bloße Formalität, sondern mit der Einhaltung aller religiösen Regeln verbunden, was für die für russischsprachigen Juden einfach unannehmbar ist. In den 26 Jahren sind nur fünf bis sechs Prozent konvertiert. Das muss man also anders lösen, man muss sich öffnen, nicht verschließen. Stattdessen wächst der Einfluss der Religiösen, sie sind ein großes Problem."
Dass Religionsbehörden eine derart große Rolle spielten, passe nicht zu einer modernen Demokratie. Die Knesset-Abgeordnete Xenia Swetlowa, blond, blauäugig, hat sogar demütigende Erfahrungen gemacht.
"Es passiert mir immer wieder, dass jemand von oben auf mich herabschaut und sagt, dass ich wohl Russin sei und nicht einen Tropfen jüdischen Blutes in mir hätte. Da antworte ich, dass in Rostow die ganze Familie meiner Großmutter getötet wurde und sie selbst nur überlebte, weil sie Militärärztin war. Und als das geschah niemand fragte, ob wir genetisch echte Juden wären."

Offene Ablehnung gegen Russen

Die gebürtige Leningraderin Alla Dvorkin wäre 1991 lieber nach Deutschland ausgereist oder in die USA, wo sie heute lebt. Sie hat lange in der Holocaustgedenkstätte Yad Vaschem gearbeitet und im Alltag ebenfalls ebenfalls offene Ablehnung erlebt.
"Am Anfang war das für mich eine Beleidigung. Wenn man sagte: Ah, du bist eine Russin. Natürlich diese Stereotype über die Russen und Russinnen, die sind alle Prostituierte, diese blonden Frauen. Aber es hat sich geändert mit den Jahren. Da hat man gesehen, was die Russen gebracht haben. Die sind auch beruflich sehr gut integriert."
Alla Dvorkin, die ehemalige Bibliothekarin in Yad Vaschem, hat eine jüdische, aber nicht gläubige Mutter und Großmutter, die zur sowjetischen Großstadt-Intelligenzija im damaligen Leningrad gehörten. Alla Dvorkin machte mit den streng gläubigen Juden erst in Israel Bekanntschaft.
"Wie ich da mit diesem Null-Wissen ankam und alles für mich neu war! Und außerdem sind wir in einem sehr religiösen Viertel gelandet. Ich habe zum ersten Mal einen Juden in einem schwarzen Anzug und der diese Locken hatte, gesehen. Das war für mich eine Entdeckung, eine neue Welt. Ich dachte, was soll das alles bedeuten? Bin ich in einem Märchen, in einem Film?"
Die Bibliothekarin lernte Hebräisch, informierte sich über die Religion, die Traditionen, die Kultur. Eine gläubige Jüdin ist aus ihr nicht geworden.
"Ich bin sogar noch mehr antireligiös geworden. Diese Heuchelei in allen Religionen! Ich habe verstanden, dass es sehr viele Lügen gibt, dass es mit Realität überhaupt nichts zu tun hat. Also der berühmte Spruch: Du musst deinen Nächsten behandeln wie dich selbst. Das ist in der Wirklichkeit nicht so. Alles, was der andere ist, ist niedriger, und von zweiter, dritter Klasse. Das haben wir gesehen, als die äthiopischen Juden aufgenommen wurden. Die sind in Baracken untergebracht worden, außerhalb der Städte, weil sie nicht weiß waren."
Noch ungerechter und undemokratischer als die Behandlung der äthiopischen Juden oder die Verschonung der Ultraorthodoxen von der Wehrpflicht empfindet sie das Verhältnis zur palästinensischen Minderheit.
"Also diese Beziehung zwischen Juden und Nichtjuden. Diese Konflikte zwischen Palästinensern und Israelis. Ein Araber, Palästinenser, der Bürger des Staates Israel ist, darf kein Land kaufen. 97 Prozent gehören dem Staat und nur drei Prozent den Palästinensern. Wenn irgendeine Familie Land kaufen möchte, kann sie das nicht tun. Das ist ein Gesetz."

Fremdenfeindlichkeit und Rassismus

Als Parlamentsabgeordnete kennt Xenia Swetlowa die unterschiedlichen Schwierigkeiten, auf die die einzelnen Bevölkerungsgruppen stoßen. Doch anders als Verteidigungsminister Avigdor Lieberman, der bekannteste Politiker, der aus der Sowjetunion stammt, mag Swetlowa nicht von einem Krieg gegen die Russischstämmigen reden.
"20 Prozent der Bevölkerung sind israelische Araber, die täglich Fremdenfeindlichkeit und Rassismus erleben. Deswegen bin ich weit davon entfernt zu sagen, dass besonders gegen die Russischsprachigen Krieg geführt wird. Das ist verbreitet in der Gesellschaft und muss sich mit Hilfe von Bildung verändern."
Auch Alla Dvorkin sieht keinen Anlass für Selbstmitleid. Sie möchte stattdessen den Grundfehler der israelischen Demokratie, wo sie ihn ausmacht, beim Namen nennen.
"Das ist eine Demokratie für die Juden. Wie kann man über Demokratie sprechen, wenn es nur eine bestimmt Gruppe betrifft. Und nicht die andere Gruppe, die 20 Prozent der Bevölkerung ausmacht. Demokratie ist für alle. Das geht nicht zusammen. Entweder Demokratie oder jüdischer Staat. Glücklicherweise ist das ein Teil des Diskurses in der Gesellschaft geworden. Ich finde, das ist schon ein Schritt nach vorne."
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