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Victor Hugo: "Die Arbeiter des Meeres"
Die Schicksalsmacht der Dinge

Mit Kraft, Gewitztheit und Ausdauer wagt sich der Held in Victor Hugos "Die Arbeiter des Meeres" allein hinaus aufs tobende Meer. In den Kulissen einer Abenteuergeschichte lässt der Autor die Schicksalsmächte walten. Der einzigartige Roman aus dem Jahr 1866 liegt jetzt in einer brillanten Neuübersetzung vor.

Von Martin Grzimek | 19.02.2018
    Zwei große Fischerboote mit hohen Masten und eingerollten Segeln befinden sich inmitten tosender Wellen.
    "Der Wind wehte mit der Wucht eines Donners, der Regen fiel nicht, er stürzte herab" - In Victor Hugos "Die Arbeiter des Meeres" gerät der Held auf dem Meer in einen Sturm (dpa / Redkin / Sputnik)
    "Gilliatt spürte plötzlich, dass ihm ein Windstoß das Haar zerzauste. Drei oder vier dicke Regentropfen zerplatzten neben ihm auf dem Felsen zu spinnenförmigen Flecken. (...) Ein (...) Donnerschlag (...) zerriss die Wolkenmauer (...), ein Loch tat sich auf, durch das sich die ganze, in der Luft schwebende Flut ergoss, der Spalt wurde zu einem geöffneten Mund voller Regen, und das Ungewitter begann sein Speien. Wolkenbruch, Orkan, Wetterleuchten, Blitze, Wogen, bis zu den Wolken schlagend, Detonationen, wahnsinnige Windungen, Gekreisch, Brüllen, Pfeifen, alles auf einmal. Entfesselung der Ungeheuer. Der Wind wehte mit der Wucht eines Donners, der Regen fiel nicht, er stürzte herab." (Victor Hugo: "Die Arbeiter des Meeres")
    Gilliatt ist der Held in Victor Hugos großartigem, in Deutschland kaum beachtetem Roman "Die Arbeiter des Meeres" aus dem Jahr 1866. Die Unwetterszene stammt schon aus der Mitte des Romans und wir befinden uns mit Gilliatt auf den Douvrefelsen, eine unwegsame und für die Schifffahrt gefährliche Gesteinsformation, etwa vier Seemeilen vor der Kanalinsel Guernsey.
    Einzelgänger mit Ausdauer
    Von dort stammt Gilliatt, nach Hugos Worten ein wahrer Teufelskerl, ein von der Bevölkerung der Insel gemiedener Einzelgänger, die ihm Zauberkräfte andichtet und ihm zugleich den Beinamen "der Durchtriebene" gegeben hat. Kraft, Gewitztheit, Ausdauer, Schweigsamkeit und die Geschicklichkeit seiner Hände bringen Gilliatt dazu, sich allein hinaus aufs tobende Meer zu wagen, um den wertvollen Maschinen- und Motorblock des Dampfschiffes Durande zu retten, das im Sturm zwischen die beiden Felstürme der Douvreklippen geschleudert wurde.
    Wertvoll sind die Maschinenteile besonders für Mess Lethierry, einem reichen Reeder und dem Besitzer des Dampfschiffes. Sie sind ihm sogar so wertvoll, dass er demjenigen, der ihm den Motor zurückbringen kann, seine hübsche Nichte Déruchette als Frau verspricht. Und da Gilliatt heimlich in diese Frau verliebt ist, sie geradezu anbetet, ohne dass der arme Schlucker jemals die Hoffnung hätte haben können, sie zu heiraten, weiß er, kaum dass er von Lethierrys Versprechen hört, was er zu tun hat.
    "Die riesenhafte Gestalt des Großbuchstabens H"
    Nachts in aller Heimlichkeit macht er sich, mögliche Konkurrenten fürchtend, in seinem Boot auf den Weg, um aus den Felsen den Maschinenteil des gestrandeten Wracks zu bergen. Dessen Anblick beschreibt Hugo so:
    "Die Douvresfelsen stemmten die tote Durande mit triumphierender Geste über die Wogen. Wie zwei aus dem Abgrund kommende Riesenarme hoben sie den Schiffskadaver empor und präsentierten ihn den Stürmen. Sie erinnerten an einen Mörder, der mit seiner Tat prahlt. Zu diesen Eindrücken trat noch der heilige Schauer der frühen Morgenstunde hinzu. Sie besitzt eine geheimnisvolle Größe; in ihr mischen sich Traumreste und beginnendes Denken. Gespenstisches durchflattert noch diese vage Phase. Die riesenhafte Gestalt des Großbuchstabens H, gebildet von den beiden Douvres mit der Durande als Querstrich, erschien am Horizont in einer seltsam dämmerigen Majestät."
    Darin dass Hugo hier mitten im Roman mit dem Hinweis auf den "Großbuchstaben H" wie ein Maler seine Signatur hinterlassen hat, sah mancher die Egomanie dieses Schriftstellers.
    Auch im Interieur seines Wohnhauses auf Guernsey, mittlerweile ein vielbesuchtes Museum, findet man an den Wänden und Möbeln überall diese Initiale. Hugo hat die Innenausstattung seines "Hautville House" zum größten Teil selbst gestaltet. Er hat Wände verziert, Möbel entworfen und aus dem kulturellen Strandgut, das auf der Insel geblieben ist, eine Art Gesamtkunstwerk geschaffen.
    Abschluss einer Trilogie
    Hugo war zur Zeit seines Exils längst ein über die Grenzen Frankreichs hinaus berühmter Mann. Mehr als ein Dutzend Dramen und Gedichtbände waren entstanden, in politischen Essays und Artikeln hatte er die Freiheit des Individuums gegenüber diktatorischen Regimen verteidigt und in den Romanen "Der Glöckner von Notre-Dame" und "Die Elenden" Bestseller geschrieben. "Die Arbeiter des Meeres" hat er als Abschluss seiner Trilogie verstanden. In seinem Vorwort schreibt er dazu:
    "Eine dreifache anankè lastet auf uns: die der Dogmen, die der Gesetze, die der Dinge. In "Notre-Dame de Paris" hat der Autor die erste, in "Les Misérables" die zweite und in diesem Buch die dritte aufgezeigt. Mit diesen drei Schicksalsmächten, die von außen auf den Menschen einwirken, verbindet sich das innere Verhängnis, die höchste anankè, das menschliche Herz."
    Victor Hugo in einer zeitgenössischen Darstellung
    Während seines Exils auf Guernsey von 1851 bis 1871 vollendete Victor Hugo erst den Roman "Les Misérables", bevor er sich mit „Die Arbeiter des Meeres“ beschäftigte (picture-alliance / dpa)
    Psychologische Exkurse und historische Details
    Die Schicksalsmächte walten in dem Roman "Die Arbeiter des Meeres" auf unterschiedliche Weise. Auf der einen Seite geht es um Gilliatts Kampf mit der Natur, zum anderen aber geht es um das menschliche Geflecht, in dem sich die übrigen Charaktere des Romans befinden.
    So ist das ganze Gegenteil von Gilliatt der Kapitän des Dampfschiffes Sieur Clubin, von seiner Erscheinung her ein rechtschaffener Mann, in seinem Inneren aber ein Dieb und Betrüger. Er wird, was niemand ahnen konnte, Lethierry, seinen Arbeitgeber, um eine große Summe Geld betrügen. Um seine Flucht zu kaschieren, opfert er sogar das Dampfschiff und überlässt es führerlos Wind und Wellen, die es schließlich gegen die Douvreklippen schleudern.
    Hugo benutzt diese Romanfigur, um sich in einem langen Traktat über den Charakter des Heuchlers auszulassen, wie er ohnehin gern in Betrachtungen über einzelne Themen verfällt, über Naturerscheinungen genauso wie etwa über eine umfangreiche Liste gängiger Bootstypen.
    All diese Abschweifungen haben immer nur den einen Sinn: Wo psychologische Exkurse menschliche Verhaltensweisen zu begründen versuchen, wollen historische Details die Wahrhaftigkeit des Romangeschehens unterstreichen.
    Arbeit als zentraler Begriff
    Bei aller Romantik und Phantastik der Handlung soll der zeitgenössische Leser an keiner Stelle vergessen, dass auch ausgedachte Geschichten immer in der realen Geschichte wurzeln. Insofern sind "Die Arbeiter des Meeres" ein Fundus von historischen und kulturgeschichtlichen Verweisen, zu deren Verständnis ein ausführlicher Anmerkungsteil des Buches gute Hilfestellungen gibt.
    Andererseits ist die Vielfalt fremder Sprachen im Stimmengewirr des Romans ein Beweis für die Weltläufigkeit der Beziehungen, in denen die Menschen verstrickt sind. Und neben den immer wieder auftauchenden Erörterungen über die unergründbare Ewigkeit der Naturgesetze gegenüber ihren ephemeren Erscheinungen, setzt sich der Roman mit einem Begriff auseinander, der signifikant schon in seinem Titel auftaucht, dem Begriff der "Arbeit". Recht eindeutig definiert Hugo die "Arbeiter des Meeres" in einer Textstelle gleich zu Beginn des Romans.
    "Auf Inseln wie Guernsey gibt es zweierlei Menschen: Die einen verbringen ihr Leben mit der Umrundung ihres Ackers und die anderen mit der Umrundung der Welt per Schiff. Jene sind die Arbeiter der Erde, diese die Arbeiter des Meeres. Mess Lethierry zählte zu den Letzteren (...). Sein ganzes Leben (...) hatte er dem Ozean geweiht, 'ins Wasser geworfen', wie er sich ausdrückte. Er hatte alle großen Meere befahren, Atlantik und Pazifik, aber dem Ärmelkanal gab er den Vorzug. 'Das ist wirklich ein Racker!', äußerte er sich voll Zuneigung. An seinen Ufern war er geboren worden, dort wollte er auch sterben."
    "Travail" und "labeur"
    "Ein Racker" nennt der Reeder Lethierry das Meer und setzt damit die Tätigkeit der Natur der des Seemanns und der des Bauern gleich, Arbeit ist die unermüdliche Bewältigung von alltäglichen Aufgaben - im französischen Original steht dafür das Wort "travail". Hugo wird nicht müde diese Art der Arbeit in einer Unzahl von Beispielen zu beschreiben und zu nuancieren. Aber es gibt auch noch ein anderes Wort für Arbeit im Französischen, und das heißt "labeur" und bedeutet: etwas mit Mühe schaffen oder bewerkstelligen.
    Signifikanter Weise taucht es nur an wenigen Stellen im Mittelteil des Buches auf, in dem Gilliatt mit der Bergung der Maschine der Durande beschäftigt ist. Denn Gilliatt macht eigentlich keine Arbeit. Vielmehr birgt er einen Schatz, rettet mit all seiner Kraft ein Ding vor dem Untergang, bewahrt etwas für die Gegenwart, das schon verloren geglaubt ist. Im übertragenen Sinn hält er durch seine heroischen Taten jene Momente des Erlebens fest, die Hugo als eine Mischung aus "Traumresten und beginnendem Denken" in der "geheimnisvollen Größe der frühen Morgenstunde" beschrieben hat.
    "Labeur" - das ist eigentlich die Arbeit des Künstlers, der Hugo mit seinem Roman von den "Arbeitern des Meeres" in den Kulissen einer Abenteuergeschichte ein Denkmal gesetzt hat.
    Roman mit Einfluss
    Und weil solche Liebe zur kreativen Verwirklichung einer Idee keiner Belohnung im üblichen Sinn bedarf, endet die Geschichte auch nicht mit der Heirat von Gilliatt und Déruchette, sondern der Held verzichtet darauf und bemüht sich sogar noch darum, dass die ehemals Angebetete mit einem jungen Priester vermählt wird, den sie liebt, während Gilliatt selbst in der steigenden Flut des Meeres ertrinkt.
    Nicht umsonst hat dieser Roman Einfluss gehabt auf Schriftsteller wie Lautréamont und Marcel Proust, die sich in ihren Werken ohne den Zwang gängiger Gattungsmuster mit den Phänomenen der Erinnerung und denen von Traumbildern auseinandergesetzt haben.
    Rainer G. Schmidts brillante Neuübersetzung dieses einzigartigen Romans macht uns ein Buch zum Geschenk, das zum Lesegenuss, zum Nachdenken und zu neuen Interpretationen anregt. Die vorzüglich gestaltete, durch zwei Essays Hugos über die Insel Guernsey und das Phänomen von "Wind und Wellen" erweiterte Ausgabe des Werkes im Mare Verlag unterstreicht auch rein äußerlich den Wert dieses zur Weltliteratur gehörenden Buches. Angeboten wird es in einem Schmuck-Schuber, auf dessen Rücken vielsagend und überdeutlich "die riesenhafte Gestalt des Großbuchstabens H" eingeprägt ist.
    Victor Hugo: "Die Arbeiter des Meeres". Roman. Herausgegeben und aus dem Französischen übersetzt von Rainer G. Schmidt. Mareverlag, Hamburg 2017. 672 Seiten. 48 Euro.