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Aufstieg der Rechtspopulisten
"Ein Angriff auf sensible Bereiche der Demokratie"

Deutschland sei nach wie vor eine der stabilsten Demokratien weltweit, sagte der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel im Dlf. Allerdings gebe es hier wie in anderen Ländern populistische Angriffe auf die Rechte von Minderheiten, geführt mit dem demokratischen Argument des Mehrheitswillens.

Wolfgang Merkel im Gespräch mit Britta Fecke | 25.03.2018
    Das Bild zeigt Viktor Orban (l), Ministerpräsident von Ungarn, und Sebastian Kurz, Bundeskanzler von Österreich. Sie sprechen auf einer gemeinsamen Pressekonferenz nach ihrem Arbeitstreffen.
    Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán (l.): stolzer Vertreter eines illiberalen Demokratieverständnisses und Sebastian Kurz, Bundeskanzler von Österreich (dpa-bildfunk / APA / Roland Schlager)
    Britta Fecke: In dieser Woche hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier an die Anfänge der deutschen Demokratie in Mainz erinnert: an die Mainzer Republik von 1792 bis 1793, einen fast vergessener Teil unserer Geschichte. Steinmeier ehrte in seiner Rede die Staatsform der Demokratie. Der Bundespräsident wörtlich:
    "Sie ist eine Staatsform, die das Risiko der Selbstzerstörung in sich trägt, wenn Bürger aufhören, sich für die Demokratie zu engagieren, wenn sie aufhören, Verantwortung in den demokratischen Institutionen zu übernehmen oder antidemokratische Akteure einfach gewähren lassen."
    Die Worte Steinmeiers kann man durchaus auch als Warnung verstehen. Wie ist es um die Demokratie in Deutschland, aber auch in der EU mit Blick auf Ungarn und Polen bestellt? Das möchte ich mit Wolfgang Merkel diskutieren. Er ist Direktor der Abteilung Demokratie und Demokratieforschung des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung.
    Herr Merkel: Das Engagement für die Demokratie scheint im Moment nicht sehr groß, wenn man allein die Wahlbeteiligung als auch das Erstarken der rechtspopulistischen Parteien bedenkt.
    Wolfgang Merkel: Es gibt natürlich Gründe, aber beides sind unterschiedliche Sachverhalte. Zunächst: Es gibt tatsächlich einen Rückgang der Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an Wahlen. Die ist aber viel moderater, als sie dargestellt wird. Das gilt für Deutschland, gilt aber auch für ganz Europa.
    Gleichzeitig haben wir aber Nichtregierungsorganisationen, Bürgerinitiativen unterschiedlicher Provenienz, die sich beteiligen, die sich direkt beteiligen. Wir haben keineswegs eine glatte Analyse, dass das nur nach unten geht.
    Und im Übrigen: Die Rechtspopulisten – es gibt viele Gründe, dass man sie normativ nicht mag, und ich selbst habe viele Gründe. Aber sie haben auch einen positiven Effekt. Sie mobilisieren, sie politisieren, und dadurch gewinnt sogar der politische Diskurs und wir sehen, dass gerade die unteren Mittelschichten wieder in die politische Arena hineingezogen werden.
    "Demokratie ist auf einer schiefen Ebene in Bewegung nach unten"
    Fecke: Sie selbst sprachen ja von dem Gespenst, das in Europa umgeht, dieses Gespenst der Krise in Europa. Wenn Sie aber jetzt sagen, dass der Diskurs und die Streitkultur durch das Erstarken der rechtspopulistischen Parteien gefördert wird, dann haben wir ja doch keine Krise.
    Merkel: Krise ist ein ganz großes Wort. Ich würde mich dagegen verwehren, wenn wir es in der eigentlichen Wortbedeutung auf etwa unser Land anwenden, wenn Krise heißt, es ist eine Frage auf Leben und Tod. So ist der eigentliche etymologische Gehalt aus der griechischen Antike und auch in der medizinischen Metaphorik. Da geht es darum, ob der Patient überlebt oder nicht überlebt, und das hängt ab von intervenierenden Entscheidungen, in unserem Fall von Entscheidungen der relevanten Akteure. Wenn die Krise so scharf gebraucht wird, können wir nicht von einer Krise in Deutschland oder den westeuropäischen Ländern sprechen.
    Wenn wir es diffuser gebrauchen – und so machen wir das leider, oder die Medien, sogar in der Wissenschaft immer stärker –, dann heißt es, der Qualitätsgehalt der Demokratie ist auf einer schiefen Ebene in Bewegung nach unten. So könnte man ihn verwenden, aber auch hier sind vielerlei Differenzierungen angesagt. Es gibt positive und es gibt negative Entwicklungen.
    Fecke: Auf dieser schiefen Ebene sind wir auf dem Weg nach unten. Auf welcher Position würden Sie uns denn einordnen?
    Merke: Nach wie vor ist Deutschland eine der stabilsten Demokratien auf dem Globus. Da gibt es keine Zweifel, vielfältige Messungen, die auch wir gemacht haben.
    Aber wir haben in Deutschland zeitverzögert, aber auch ganz in Europa und sogar in den USA, einen Angriff eines rechten Populismus auf einen bestimmten Teil der Demokratie, und dieser Teil sind Individualrechte, sind Gleichheitsrechte etwa zwischen den Geschlechtern, zwischen unterschiedlichen sexuellen Präferenzen, zwischen ethnischen Minderheiten und der Hauptpopulation. Da wird ein Angriff geführt auf diese sensiblen Bereiche der Demokratie, und die werden nicht autokratisch mit autoritären Argumenten begründet, sondern mit einem demokratischen Argument, und das heißt Volkssouveränität.
    Das Volk ist souverän und darf entscheiden, und da das Volk nicht als Ganzes entscheidet, entscheidet immer die Mehrheit. Seine Quote ist Verständnis der Mehrheitsdemokratie, der auch durchaus Minderheitenrechte geopfert werden. Das ist gegenwärtig einer der fulminantesten Angriffe auf die Sensibilität der Demokratie.
    "Subjektive Furcht vor Migration wird als Stereotyp mobilisiert"
    Fecke: Warum verfangen denn jetzt auch bei der Wahl in Italien immer mehr einfache Parolen der Populisten bei den Wählern?
    Merkel: Italien ist ein sehr schillerndes Beispiel, war es immer. Wir haben mit der Bewegung "Cinque Stelle" die stärkste politische Formation, über 30 Prozent der Stimmen – eine ganz schillernde Bewegung. Die ist keineswegs eindeutig rechts. Sie hat linke Elemente, hat rechte Elemente, aber …
    Fecke: Ich dachte eher an das Parteienbündnis, das Berlusconi zusammengestellt hat. Da sind ja die Rechtsextremen und sehr viele rassistische und populistische Parteien unter einem Dach.
    Merkel: Da stimme ich zu. Das ist die sogenannte Lega, früher Lega Nord. Das ist – und ich gebrauche den Begriff nicht besonders oft – eine rassistische Bewegung oder sagen wir besser eine Partei mit rassistischen Gehalten, deutlich rechts noch einmal von der AfD. Die gewinnt tatsächlich im Norden Italiens insbesondere, hat 18 Prozent der Stimmen bekommen.
    Da spielt eine große Rolle die subjektive Furcht vor Migration, vor Flüchtlingsströmen. Das wird als Stereotyp mobilisiert. Das ist nicht völlig ohne Grund. Ich meine, wir haben dieses Problem, dieses nicht gelöste Problem. Aber es gelingt Rechten und Rechtspopulisten, das zu einem Furchttopos aufzublasen, und dann wird es politisch riskant.
    Fecke: Wir haben uns an dieser Stelle vor einiger Zeit schon einmal über den Niedergang der Volksparteien unterhalten und auch die Wahlergebnisse der Sozialdemokraten in Europa, in Deutschland. In Italien haben sie auch ein historisch schlechtes Ergebnis eingefahren. Spricht dieser Niedergang der Volksparteien auch für eine mangelnde Akzeptanz der Staatsform, die sie vertreten, also Demokratie?
    Merkel: Da wäre ich vorsichtig. Tatsächlich hatten Volksparteien, die sehr viel jünger als die Demokratie sind, ihre große Zeit nach 1945, und das beginnt dann in den 90er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts deutlich abzubröckeln und es geht nach unten.
    Nicht nur für die Sozialdemokraten, sondern auch für die sogenannten Mitte-Rechts-Volksparteien, typischerweise Christdemokraten. Da haben wir einen robusten Trend in ganz Europa. Die Sozialdemokraten trifft es besonders stark, nicht nur in jenen Fällen, die Sie genannt haben, die SPD. Ganz prekär und riskant ist das in Holland. Da rechnen wir mit sieben, acht Prozent der Sozialdemokraten. Die Sozialisten in Frankreich sind quasi verschwunden.
    Hier gibt es eine Bewegung, von der ich meine, wo die Parteien selber auch Schuld tragen an ihrem Wahlniedergang. Die sozialdemokratischen Parteien sind zu stark in die Mitte, die Christdemokraten übrigens auch. Damit haben sie links und rechts von der Mitte einen breiten politischen Raum geöffnet.
    Und rechts von der Mitte sind die Rechtspopulisten, ja man kann sagen, geradezu einmarschiert, haben sich dort festgesetzt und ziehen Wähler keineswegs nur von den Mitte- und christdemokratischen Parteien, sondern massenhaft auch Arbeiterwähler von den Sozialdemokraten auf ihre Seite. Der Aufstieg der Rechtspopulisten kann nicht erklärt werden ohne den Niedergang der großen Volksparteien.
    Dänemark: "Hat die Grenzen ganz massiv geschlossen"
    Fecke: Nun sind aber einige Parteiinhalte nicht demokratisch von diesen rechtsextremen oder rechtspopulistischen Parteien.
    Merkel: Darüber muss man konkret reden, welche das sind. Das ist gar nicht so einfach. Wir mögen sie normativ nicht akzeptieren. Ob es nicht demokratisch ist, ist noch eine ganz andere Frage.
    Nehmen wir eine der zentralen Forderungen, das heißt Schließung der Grenzen. Wenn das in ordentlichen demokratischen Verfahren durchgesetzt wird, ist das eine demokratische Entscheidung. Man kann sagen, die gefällt mir nicht, und da gibt es Gründe. Das sind aber nicht nur die Rechtspopulisten; sehen Sie sich Dänemark an, eine der besten Demokratien auf dem Globus, eine starke solidarische Gemeinschaft. Die hat die Grenzen ganz massiv geschlossen gegenüber Flüchtlingen und Migranten.
    Da kann man sagen, das ist keine kosmopolitische Politik. Aber man wird nicht sagen können, das ist nicht demokratisch. Also müssen wir genau hinsehen, was tatsächlich undemokratisch ist und was wir normativ als nicht gerechtfertigt ansehen. Das muss nicht immer das gleiche sein.
    Illiberale Demokratie: "Der erste Angriff gilt immer der Justiz"
    Fecke: Lassen Sie uns von Deutschland mal ein bisschen weiter hinausschauen. In Europa gibt es mehrere Länder, die die Prinzipien der Demokratie wie die Gewaltentrennung verletzen. Ich denke an Polen und Ungarn. Was bedeutet das für die Stabilität in Europa?
    Merkel: Das ist sicherlich das, was ich als einen Angriff auf die Demokratie bezeichnet habe. In diesen beiden Ländern – Ungarn ist noch ein anderer Fall als Polen; in Ungarn hat eine absolute Mehrheit Viktor Orbán, dem Premierminister, die Regierungsgewalt geradezu übergeben. Und jetzt kommt Orbán nicht verschämt, sondern mit großem Stolz und sagt, wir bauen die illiberale Demokratie, und das ist die Demokratieform für das 21. Jahrhundert. Das ist nicht die schwächelnde westliche kosmopolitanische Demokratie, und wir schränken Minderheitenrechte ein. Wir schränken vor allen Dingen die Gewaltenteilung ein. Und wenn das gesagt wird, gilt der erste Angriff immer der Justiz: Zunächst dem Verfassungsgericht, dann den Verwaltungsgerichten. Das sehen wir auch in Polen, wo die Kaczynski-Partei einen deutlich geringeren Wahlerfolg hat. Sie hat insgesamt 33 Prozent der Stimmen bei nur 50 Prozent Wahlbeteiligung. Das ist auch an sich ein deutliches Problem.
    Wir haben zwei Länder, die zum einen von innen die Demokratie aushöhlen, aber auch signalisieren gegenüber den westeuropäischen Ländern: Wir übernehmen nicht einfach die EU-Beschlüsse. Wir haben gerade unsere nationale Souveränität aus dem Sowjetimperium wiedergewonnen und da wollen wir sie nicht sofort abgeben.
    Und das ist nicht nur Ungarn, das ist nicht nur Polen, das finden Sie in Tschechien, in der Slowakei im gleichen Maße, also den entwickelten Staaten Osteuropas. Da müssen wir sehen, es klafft ein tiefer Graben mittlerweile zwischen westeuropäischen Staaten und den osteuropäischen Staaten bei zentralen politischen Problemen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.