Aus den Feuilletons

"Und Abflug"

Der Belgier Chris Dercon verlässt die Berliner Volksbühne als Intendant ein gutes halbes Jahr nach Beginn der Spielzeit. Dercon-Kritiker haben Theaterplakate überklebt.
Chris Dercon verlässt die Berliner Volksbühne als Intendant, ein gutes halbes Jahr nach Beginn der Spielzeit. Dercon-Kritiker haben Theaterplakate überklebt. © Karoline Scheer/Deutschlandradio
Von Arno Orzessek · 14.04.2018
Die "FAS" beschreibt die Intendanz Chris Dercons und seinen Abgang als blutiges Volksbühnen-Drama. In der "TAZ" dagegen: offenes Bedauern über Dercons Ende. Und die "SZ" bringt die Vorgeschichte des Desasters.
Kehren wir, bevor es so richtig losgeht, zur Stärkung in den "Palmgarden" ein… Das beste Restaurant Dortmunds, wenn man Jakob Strobel y Serra von der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG glauben darf.
Unter der Überschrift "Was is'n dat fürn Killefitt?" lobte Strobel y Serra nicht zuletzt den "Surf and Turf à la Ruhrpott" aus der Küche von "Palmgarden"-Chef Michael Dyllong:
"Ein Rindertatar wird von einem Wachteleigelb geschmeidig gemacht, mit einer Austern-Emulsion in den Strandurlaub geschickt, mit einer Senfsauce gewürzt, deren Senf aus einem alteingesessenen Familienbetrieb gleich um die Ecke kommt, und um ein Sylter Royal-Auster mit Chimichurri, Ponzu, Limetten-Espuma und Austernchips ergänzt."

Niederschmetternde Budget-Situation

Führen wir uns also einen Bissen auf der Gabel der Imagination zum Mund und verlassen uns auf das Urteil des Kritikers. Strobel y Serra behauptet, es falle beim Dyllongschen Surf and Turf "keine einzige Komponente auf den Boden der Überflüssigkeit"… Was leider kein elegant komponiertes Bild ist in diesem Schmaus von einem Text.
Es würde uns nun gefallen, über Hans Magnus Enzensbergers "Experten-Revue" "Ein Apfel ist nicht einfach nur ein Apfel" in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG zu reden… Aber wird sind ja nicht zum Spaß hier – und in der deutschen Kulturlandschaft wurde am Freitag, den 13., ein wirklich dickes Ding bekannt. Chris Dercon, wild umstritten seit dem Augenblick seiner Bestellung zum Intendanten der Berliner Volksbühne, hat nach schlanken sieben Monaten hingeschmissen.
"Und Abflug" titelte die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, die nach eigenen Angaben mit dem NDR zwei Monate lang die "Vorgeschichte des Desasters" recherchiert hat. Hier einige Einzelheiten des Desasters von John Goetz und Peter Laudenbach.
"Dass die Budget-Situation der Volksbühne niederschmetternd ist, war klar, seit Dercon und sein Team am Montag in der Berliner Kulturverwaltung Bericht erstatteten. Mit den noch zur Verfügung stehenden Mitteln kann der Spielbetrieb nur notdürftig aufrechterhalten werden. Bis Jahresende können keine Neuproduktionen für die große Bühne finanziert werden. Zahlreiche Vorstellungen in dem Haus mit mehr als 800 Plätzen finden nur 200 oder weniger Zuschauer. Die Volksbühne, unter Dercons Vorgänger über Jahrzehnte eine Burg im deutschen Theaterbetrieb und heute das Haus mit den zweithöchsten Subventionen aller Berliner Schaubühnen, ist nicht mehr handlungsfähig"… diagnostizierte die SZ.

Neurotisches Händewaschen nach dem Königsmord

Mehr Theater ums Theater macht Jan Küveler in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN SONNTAGSZEITUNG und hebt an:
"Wenn die Intendanz von Chris Dercon selbst ein Stück wäre – eines von der Sorte, wie sie an der Volksbühne schon länger nicht mehr zu sehen sind, weil dort stattdessen getanzt, diskutiert, performt oder meistens einfach gar nichts gemacht wird – dann eine Mischung aus 'Macbeth' und 'Warten auf Godot'. Die finstersomnabule Handlung ginge mit einem Königsmord los, darauf folgten allerlei Gehadere, Hass, monatelanger Zweifel und neurotisches Händewaschen (in Unschuld, klar, aber das Blut ginge niemals ab)."
Wenn Sie wissen wollen, liebe Hörer, wie Jan Küveler die Rollen im blutigen Volksbühnen-Drama besetzt – noch ist die FAS am Kiosk zu haben. Ihr gar nicht so leises Bedauern über Dercons Abgang bekundete Katrin Bettina Müller in der TAGESZEITUNG:
"Die Kritik an Chris Dercon als Volksbühne-Leiter speist sich auch aus hartnäckigen Vorurteilen gegen ihn als Vorreiter von Neoliberalismus und Gentrifzierung. Damit operierten auch die Besetzer der Volksbühne, von denen ein Teil weiter gegen ihn intrigierte, dem Haus Künstler abspenstig machen wollte, eine politische Front konstruierte, die es so nie gab. An ihre offene und als politisch verkaufte Gegnerschaft dockten wiederum andere Kritiker an, die vor allem keine Ausweitung des Theaterbegriffs wollten und dafür ausgerechnet Frank Castorf zu ihrem Schutzheiligen erkoren. Dass diese Seite nun ihren Sieg feiert, ist traurig und spricht nicht für Offenheit." Katrin Bettina Müller in der TAZ.

Gefahr für den Literaturnobelpreis

Und was machte bei all dem die Berliner Politik? Wir erlauben uns, deren Unzulänglichkeit mit Hilfe des rhetorischen Ungeschicks von Kultursenator Klaus Lederer fühlbar zu machen, den die FAS wie folgt zitiert: "Herr Dercon hat eingeschätzt, dass, wenn er jetzt anfangen würde, sich neue konzeptuelle Gedanken zu machen, dass sehr, sehr lange dauern würde, bis die sich dann praktisch niederschlagen."
Den Literaturnobelpreis gibt es dafür nicht… Aber gibt‘s den künftig überhaupt noch? "Die schwedische Akademie in Stockholm ist jämmerlich auseinandergebrochen. Sogar der Literaturnobelpreis ist in Gefahr", konstatierte Thomas Steinfeld in der SZ.

Entfesseltes Kleinbürgertum gegen Aristokratie

Alles hat damit begonnen, dass achtzehn Frauen den Stockholmer Fotografen Jean-Claude Arnault der sexuellen Übergriffigkeit bezichtigten. Einerseits. Andererseits wurde ruchbar, dass Arnaults Ehefrau Katharina Frostenson als Akademie-Mitglied ihrem Jean-Claude die Namen künftiger Preisträger gesteckt haben soll. Wie es weiterging – und es ging sehr bunt weiter, sehr boulevardesk, sehr schmutzig auch – können wir hier nicht ausbreiten… wohl aber Steinfelds vorläufiges Resümee übermitteln:
"Eine Akademie ist eine aristokratische Einrichtung. Dass sie niemandem etwas schuldet, am wenigsten eine Rechtfertigung, ist die Voraussetzung für die Vergabe einer Auszeichnung von der Bedeutung des Nobelpreises für Literatur. Skandal und Zusammenbruch zeigen, dass eine solche Einrichtung einem entfesselten Kleinbürgertum schwer gewachsen ist."
Oha, Herr Steinfeld, sagen wir: Aristokratie gegen Kleinbürgertum, das klingt klassenmäßig nicht restlos vorurteilsfrei. Aber bitte, wir fordern keine politische Korrektheit… Und fanden es lustig, dass die NZZ die Porno-Darstellerin Stormy Daniels – mit der US-Präsident Trump rumgemacht haben soll – zwar angezogen, aber doch so wenig angezogen auf einem Foto gezeigt hat, dass einige Männer die Daniels gewiss mal kurz wie durch Trumps Augen sahen. Oder halten Sie unseren Gedanken für Humbug, liebe Hörer?
Tja, dann würden wir Ihnen mit einer SZ-Überschrift entgegenhalten: "Humbug ist das Siegel unserer Zeit."
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