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"Anthracite Fields" in Berlin
"Ich versuche, die Stimmung unter Tage wiederzugeben"

Bereits vor Jahrzehnten wurde der Bergbau im amerikanischen Pennsylvania stillgelegt. Die Komponistin Julia Wolfe ist mehrfach unter Tage gefahren und hat die Stimmung in ihrem Oratorium "Anthracite Fields" von 2015 verarbeitet - ganz ohne Nostalgie. Nun ist es erstmals in Deutschland zu sehen.

Von Julia Kaiser | 05.11.2018
    Arbieter beim Abbau von Glanzkohle in einer Miene in der Nähe von Scranton, Pennsylvania, USA
    Bereits in den 1970er-Jahren wurde der Bergbau in den Pennsylvania stillgelegt, weil die Vorkommen erschöpft waren (picture alliance/dpa/akg-images)
    Tief unter die Erde von Pennsylvania führt die Komponistin Julia Wolfe ihr Publikum, begleitet von einem irisierenden Schwingen der tiefsten Kontrabsssaite, der Bassklarinette und dem dumpfen Summen und Murmeln des Chores.
    "Ich versuche, die Stimmung unter Tage wiederzugeben. Dreimal bin ich dort gewesen mit einer Besichtigungstour, von ehemaligen Bergarbeitern geführt. Es ist völlig dunkel dort unten, die schwärzeste Umgebung, in der ich je war. Ich wollte diesen visuellen Eindruck in meinen Klängen wiedergeben in sehr tiefen, dunklen Tönen. Das ist nicht unbedingt etwas, das ich gehört habe, sondern so sah es aus. Das alles habe ich zu einem rumorenden Klang verschmolzen."
    Interviews mit Bergleuten
    Den Pulitzer-Preis 2015 hat das Oratorium "Anthracite Fields" bekommen. Die Komponistin verdichtet zahlreiche Interviews, die sie mit ehemaligen Bergleuten geführt hat, zu Textcollagen, die sie mal minimalistisch, mal als Rocksongs ausführt. Julia Wolfe nennt ihre Erzählstruktur "poetische Geschichtsschreibung".
    "Alle Fakten sind korrekt, aber ich wollte einen neuen Weg finden, zu betrachten, wer wir Menschen sind und wie wir früher mit einander umgegangen sind. Die Sätze haben deshalb unterschiedliche Themen. Der erste heißt 'Fundament'. Es beginnt mit den Männern, die da unten gearbeitet haben. Der Chor singt eine Liste von Namen, die ich aus einem Index von Bergbau-Unfällen genommen habe. Ich habe alle mit dem Vornamen John und einem einsilbigen Nachnamen in alphabetischer Reihenfolge aufgelistet: John Airs, John Ames, John Bates und so weiter. Und dazu kommt eine Auflistung von Kohlevorkommen in der Erde."
    Der Berliner Chor Cantus Domus singt die Deutsche Erstaufführung des Werkes. Chorleiter Ralf Sochaczewsky hat bereits Aufführungen des Oratoriums in Dänemark und Belgien geleitet. Dazu kommt das Sextett aus New York, für das Julia Wolfe ihr Werk komponiert hat, die Bang on a Can All-Stars, mit Klarinette, Cello, Kontrabass, E-Gitarre, Klavier und Schlagzeug. Bangin on a can, also auf eine Blechdose hauen, wird zum Stilmittel, als es stellvertretend für viele unter Tage arbeitende Kinder im 19. Jahrhundert um den Klaubejungen Mickey geht.
    "Die Breaker Boys, die den ganzen Tag Gesteinsbrocken einsammeln mussten, hatten ein hartes Leben unter gesundheitsgefährdenden Bedingungen – aber die waren auch noch Kinder, die bestimmt spielten. Dazu habe ich mir diese Stick-Klänge ausgedacht, als ob man mit einem Stock an einem Lattenzaun entlangrattert. Das ist alles assoziativ, die Worte erzählen die Geschichte, aber die Geräusche ziehen uns in diese Welt hinein."
    Eine Ballade auf John L. Lewis, einen amerikanischen Gewerkschaftsführer gibt es und einen Satz, der "Flowers" heißt, denn in den Gärten ihrer kleinen Häuser hätten sie alle Blumen gehabt, hat eine ältere Dame Julia Wolfe bei ihren Recherchen erzählt. Um Nostalgie ging es ihr aber überhaupt nicht, betont die Komponistin.
    Komponistin Wolfe geht es nicht um Nostalgie
    "Ich habe dieses Stück geschrieben, ehe es dieses Interesse an der Wiederbelebung von Kohleminen gab, ehe wir einen neuen Präsidenten hatten. Gerade gibt es in den Vereinigten Staaten eine Debatte über die Wiederbelebung des Tagebaus und eine seltsame Verklärung des Kohlebergbaus. Aber das ist sehr kurzfristig gedacht, denn schon bald werden auch die Kohlevorkommen in West Virginia erschöpft sein, wo derzeit noch gegraben wird. Ich habe mich vor allem mit der Geschichte des Kohlebergbaus beschäftigt in einer Gegend, wo dieses Kapitel abgeschlossen war. Manchmal ist es aber so, wenn sich die äußeren Umstände ändern, dann ändert sich auch die Sicht auf ein künstlerisches Werk."
    Auch die Dame mit den Blumen habe verwundert gesagt: "Aber warum sollten wir uns diese Zeit mit Arbeitsplätzen in der Dunkelheit und Kälte zurückwünschen?"
    "Die Kohlearbeiter aus Pennsylvania würden sich wahrscheinlich im Grabe umdrehen, wenn sie sehen könnten, wie alle Anstrengungen von kollektiven Verhandlungen mit Bossen und Firmen, die sie unternommen haben, heute nicht mehr möglich wären, weil die Gewerkschaften heute kaum noch Einfluss haben. All diese Kämpfe, die sie ausgetragen haben! Sie sind auf die Straße gegangen, es hat sogar Tote gegeben und es mussten erst viele Unglücke passieren, bis die Arbeitsbedingungen und die Sicherheitsvorkehrungen unter Tage verbessert wurden und die Öffentlichkeit aufwachte. Heute mag die Arbeit unter Tage weniger gefährlich sein, aber sie ist immer noch hart – und wird langfristig verschwinden."
    Im letzten Satz des Oratoriums "Anthracite Fields" zählt der Chor vom Wäschewaschen bis Telefonieren Alltäglichkeiten auf, für die jeder von uns Energie verbraucht. Damit rückt Julia Wolfe ein vermeintlich vergangenes Sujet ganz nah heran. Es mag nicht mehr Anthrazitkohle sein, aus der wir in Zukunft Strom gewinnen. Aber wir alle nutzen Energie und sind damit für die Art und Weise ihrer Gewinnung mitverantwortlich.