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Psychische Probleme in Corona-Krise
Telefonseelsorge am Anschlag

Auch wenn jetzt die Ausgangsbeschränkungen etwas erleichtert werden, einige Läden wieder öffnen dürfen: Die Corona-Pandemie wird uns alle in unserem Alltag noch lange beschäftigen. Sie bleibt ein riesiger Stresstest. Viele entwickeln Ängste, sehen kein Licht am Ende des Tunnels, weshalb die Menschen vermehrt bei der Telefonseelsorge anrufen.

Von Christoph Richter | 24.04.2020
Ein abgelegter Telefonhörer
In der Corona-Zeit suchen mehr Menschen Hilfe bei der Telefonseelsorge (dpa / picture-alliance / Rolf Vennenbernd)
Knapp 400 ehrenamtliche Mitarbeiter sind in der kirchlichen Telefonseelsorge Berlin-Brandenburg im Einsatz. Üblicherweise sitzen die Kolleginnen und Kollegen in ihren Büros in Frankfurt (Oder), Cottbus, Potsdam und Berlin. Da die Plätze derzeit aber nicht ausreichen, arbeiten viele auch von zu Hause aus, erzählt Sozialarbeiter Uwe Müller, der Leiter der "Kirchlichen TelefonSeelsorge Berlin". Das sei eigentlich nicht erlaubt, aber jetzt nicht anders zu schaffen. Denn der Bedarf sei riesig. Mehr noch - ergänzt Müller - man arbeite derzeit am Anschlag.
"Nach so einem Telefongespräch, wenn man den Hörer auflegt, klingelt es sofort wieder. Wir haben das große Glück, dass viele ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gesagt haben, ich schiebe hier zusätzliche Dienste, in dieser anstrengenden Zeit. Auch da klingelt es ununterbrochen. Aber man kann nur das machen, was man schafft", so Müller.
Mehr als doppelt so viele Anrufe
Derzeit kämen mehr als doppelt so viele Anrufe - im Vergleich zu normalen Tagen. Es seien über 120 Anrufe täglich, von denen jedes mindestens eine halbe Stunde dauere. Danach bräuchten die Mitarbeiter eine kurze Pause, dann gehe es aber auch schon weiter.
Die Corona-Pandemie stelle die Seelsorger daher vor logistische Herausforderungen, ergänzt Seelsorger Müller. Und um das Pensum zu schaffen, arbeite die kirchliche Seelsorge – die vom Erzbistum Berlin, der EKBO – der Evangelischen Landeskirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz – sowie den evangelischen freikirchlichen Gemeinden, der Caritas und der Diakonie getragen werde – derzeit zusammen mit der polizeilichen Notfall- und Krankenhauseelsorge.
Eine der kirchlichen Seelsorgerinnen ist die Rollstuhlfahrerin Vera, die im richtigen Leben aber anders heißt. Nicht mal Freunde wissen, dass sie bei der Telefon-Seelsorge tätig ist. Auch sie spüre, sagt sie, dass die Frequenz der Anrufe in Corona-Zeiten deutlich angestiegen sei.
"Also ich finde, es kommt stakkato-artig. Also ich lege auf - und dann ist sofort wieder jemand dran."
Großes Thema: Einsamkeit
Einsamkeit: Auch in Corona-Zeiten das alles beherrschende Thema. Der Gedanke, dass man nicht mal mehr zur Arbeit dürfe, die letzten Sozialkontakte zusammengebrochen seien – weil das Café oder die Bar um die Ecke geschlossen sind – das verschärfe die Einsamkeitsgefühle. Selbst Menschen, die bisher wenig bis gar keine Probleme mit Einsamkeit hatten, fühlen sich jetzt verloren. Gerade Singles sagen ihr immer wieder, erzählt Seelsorgerin Vera, sie seien in einer Art Isolations-Falle gefangen. Auch, weil sie nichts tun, nicht ausbrechen könnten, der Situation komplett ausgeliefert seien.
"Und das wird dann auch extra gesagt: Ich sitze jetzt seit fünf Wochen zuhause, bin in Kurzarbeit und habe sonst immer gearbeitet. Und jetzt kann ich nicht mal mehr meine Freunde sehen. Da herrscht eine ganz große Hilflosigkeit", sagt Vera.
Gerade jetzt aber bräuchten viele Menschen das sinnbildliche Lagerfeuer, um Nähe zu spüren, um sich zu unterzuhaken. Weil das aber gerade nicht gehe, stünden viele Anrufer unter Stress. Die Ausgangsbeschränkungen, erzählt Seelsorgerin Vera, lösen existentielle Krisen aus. Weshalb sie sich von den Behörden mehr Augenmaß wünsche.
"Also ich hatte heute eine Frau, weil sie ihren Mann nicht sehen kann. Sie sind seit 30 Jahren ein Paar. Der ist in einem Heim, sie besucht ihn da seit drei Jahren täglich mehrere Stunden. Und jetzt kann sie ihn da mal gerade fünf Minuten vor der Tür sehen. Da ist die Frage, wo ist der gesunde Menschenverstand. Da ist die Frage, wie viel schlimmer ist es, wenn die Psyche und die Seele kaputt gehen. Also da muss gucken, wo ist die Relation, das fände ich ganz gut."
Von der ersten Krise bis zur häuslichen Gewalt
Zunehmend würden aber auch Leute anrufen, die bisher glaubten, jedes Problem lösen zu können, alles im Griff zu haben. Die auch nie daran gedacht hätten, sich bei der Telefonseelsorge beraten zu lassen.
"Viele Leute nehme ich auch so wahr, als hätten sie in ihrem Leben wenige Krisen erlebt und sie stehen nun vor einem neuen unbekannten Feld. Und es trifft immer andere Leute, haben sie gedacht. Jetzt merken sie, es kann jeden treffen. Ein Grund, warum jetzt auch so viele anrufen", sagt Vera.
Was auch zunehmend zum Thema werde, ergänzt Seelsorger Uwe Müller, das sei die häusliche Gewalt. Schon kleinste Anlässe lassen die familiäre Situation in Corona-Zeiten eskalieren. Die Leidtragenden: Kinder und Frauen. Den Familienvätern rät er:
"Zum einen, wenn es hochkocht, begeben Sie sich aus der Situation. Und das andere, was wir den Menschen empfehlen: Macht, wenn ihr als Familie zusammen seid, macht jeden Abend eine Familienkonferenz. Guckt: Was lief heut gut den Tag über? Was haben wir morgen vor? Gibt es ein schönes Element, was man zusammen machen kann? Man kann zusammen spazieren gehen, irgendeine Kleinigkeit draußen zusammen machen, was Schönes kochen, was auch immer. Und plant immer die nächsten 24 Stunden."
Seelische Entspannung noch lange nicht in Sicht
Uwe Müller ist ein Profi in Sachen Telefonseelsorge. Eigentlich ein ausgebildeter Autoschlosser. In der DDR hat der heute 60-Jährige eine kirchliche Ausbildung zum Sozialarbeiter gemacht. 1986 hat er dann die erste kirchliche Telefonseelsorge Ostberlins aufgebaut. Es gab von staatlicher Seite zwar das sogenannte "Telefon des Vertrauens", erzählt er, doch da hörte die Stasi mit.
Egal ob früher oder heute: Es ging immer um Einsamkeit und fehlende Nähe. Aber in Corona-Zeiten habe die Existenz-Angst zugenommen - auch Panik und Hilflosigkeit, und zwar um ein Vielfaches. Das sollten sich Politiker, Virologen und andere Experten bewusst machen. Es gehe auch um die seelische Gesundheit der Menschen:
"Wenn ich fünf verschiedene Forscher habe, die mir fünf verschiedene Sachen sagen, dann setzt auch bei mir die Verwirrung ein. Also die Bitte: Stimmt euch ab. Versucht euch nicht alle zu übertrumpfen, nach dem Motto, wer ist der beste Krisenmanager. Sondern setzt euch zusammen, redet vorher miteinander, bevor ihr eure Ideen in die Welt pustet."
Die Arbeit der Telefon-Seelsorger – auch nach den ersten Lockerungen bei den Corona-Maßnahmen – wird in nächster Zeit nicht weniger werden. Uwe Müller rechnet noch länger mit einer hohen Frequenz von Anrufen. Denn die Seele werde nicht so schnell zur Tagesordnung übergehen. Weshalb die Gesellschaft künftig noch lange mit Corona-Stress zu tun haben werde. Seelische Entspannung – schiebt Seelsorger Müller noch hinter her – die sei noch lange nicht in Sicht.
https://www.telefonseelsorge.de/
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