Donnerstag, 25. April 2024

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Goethe zum Beispiel

Blumenberg fehlt uns: der Philosoph, der so tiefgründig wie witzig erklären, und abschweifen konnte. Der die argumentatorische Volte liebte, oder den Hiatus, eines seiner Lieblingsbegriffe, der bei ihm so viel besagen sollte wie: "philosophischer Schluckauf". Dabei verband er auf verblüffende Art Altes mit Neuem: Keiner hat uns - ganz nebenbei versteht sich - so schön erklärt, warum Fontane als der erste Dichter des >small talk< anzusehen ist, oder warum unsere moderne Medienwelt wässrig dahin plätschert wie Hans Carossas Brunnen. Was die Geisteswissenschaft Begriffsgeschichte nannte, waren für ihn Geschichten über Begriffe, die er wie Anekdoten hinstreuen konnte. Blumenberg konnte darlegen, wie Husserls Begriff der "Lebenswelt" letztlich eine Antwort auf die Nötigung war, der sich Husserl durch Heideggers Hauptwerk "Sein und Zeit" ausgesetzt fand. Und der Begriffserzähler hat selbst in ironischer Form wunderschöne neue Begriffe gefunden: das "Fernsehweltvertrauen" oder der "Selbsterfahrungsbedarf" des modernen Menschen mögen nur als beliebige Beispiele angesprochen sein.

Matthias Sträßner | 15.12.1999
    Im Garten der Philosophie interessierte sich Blumenberg am meisten für die Pflanzen, die sich quer über die festgelegten Blumenrabatten heidnischer, christlicher und griechischer Tradition frei ausgesät hatten. Das kam nicht von ungefähr: Hans Blumenberg, der am 28.März 1996 im Alter von 75 Jahren in Altenberge bei Münster starb, wo er von 1970 bis zu seiner Emeritierung 1985 auch gelehrt hatte, kam am 13.Juli 1920 in Lübeck zur Welt. Und die deutsche Geschichte gab Blumenberg noch in seiner Schulzeit zu verstehen, welchen Unterschied es macht, ob man durch Philosophie oder Staatsbürgerschaft "Halbjude" ist. Schon Blumenbergs letzte Bücher, "Die Vollzähligkeit der Sterne" und "Begriffe in Geschichten" sind in genauem Verständnis Editionen aus dem Nachlaß gewesen. Noch mehr gilt das für die bei Reclam, Hanser, und jetzt wieder bei Insel erschienenen, vielleicht müßte man auch sagen: nachgeschobenen Werke, denen zum Teil Vorveröffentlichungen in Tages- und Wochenzeitungen (FAZ und Neue Rundschau) vorausgingen. Philologische Verläßlichkeit und editorische Unterstützung des Lesers steht dabei nicht im Vordergrund. Das ist um so ärgerlicher, als Blumenberg es selbst war, der zeigen konnte, wie Verlesungen, und kleine Anmerkungen einen Text verändern können. In einer "Editorischen Notiz" des vorliegenden Goethe-Buches sagen die Herausgeber, daß Hans Blumenberg an einem ganzen Goethe-Buch gearbeitet habe, das sich als Fragment ohne Titel in einem Schuber seines Nachlasses befindet. Dort heißt es: "Die vorliegende Ausgabe bringt die dazugehörigen Manuskripte, die zu verschiedenen Zeiten entstanden sind und unterschiedliche Grade der Ausarbeitung aufweisen, in der hinterlassenen Reihenfolge." So weit so gut. Nur: Nachlässe dürfen alles sein, nur nicht nachlässig. Und diese Kritik gilt leider auch für dieses Buch: Die Texte der wenigen Fußnoten stammen vom Autor, der Anmerkungsteil ist gerade 6 Seiten lang, was im Vergleich zu anderen nachgelassenen Werken freilich fast schon ein Geschenk genannt werden muß. Dass auch das nicht reichen kann, zeigt schon eines der ersten Kapitel. Wenn Blumenberg von Albrecht Schönes Aufsatz über "Elegie und Idylle" spricht, vermisst der Leser einen Hinweis, wo dieser Text denn erschienen ist. So renommiert der Goethe-Forscher Schöne auch sein mag, voraussetzen kann man dieses Wissen beim Leser nicht. Und daß der schöne Dornburger Brief Goethes an den Komponisten Zelter über die "vorschwebende Zeit" nicht vom 7. (Juli) sondern vom 27.Juli 1828 datiert, hätte schon eine studentische Hilfskraft merken können.

    Doch lassen wir die Mäkeleien - sie könne nämlich nicht zerstören, was man bei der Lektüre in Händen hält: nämlich ein wichtiges und wertvolles Buch. "Wer möchte denn Goethe sein?", fragt Blumenberg gleich zu Beginn eines Aufsatzes - nein, nicht über Goethe, sondern über Thomas Mann. Blumenberg hält das klassische, überlieferte Bild Goethes zu recht für "jugendlastig". Er nähert sich deswegen Goethe nicht vom jugendlichen "Sturm und Drang" her, sondern vom Alter. Damit spießen die Zinken von Blumenbergs Gabel aber nur bestimmte Werke von Goethe auf: die beträchtlich aufgewerteten Gespräche mit Eckermann etwa, oder auch den musikalischen und brieflichen Kontakt mit Zelter, und natürlich den von Goethe im Alter abgeschlossenen "Faust". Ob man diese Ansicht teilt oder nicht - Blumenberg ist hier einer Meinung mit Nietzsche, der in seinen "Unzeitgemäßen Betrachtungen" über den 82jährigen Goethe hatte verlauten lassen, dass er "gern ein paar Jahre des >ausgelebten < Goethe gegen ganze Wagen voll frischer hochmoderner Lebensläufte einhandeln" wolle, um "auf diese Weise vor allen zeitgemässen Belehrungen durch die Legionäre des Augenblicks bewahrt zu bleiben." Und wenn Blumenberg schließlich zum jungen Goethe vordringt, dann nur um "die formwidrige Wildheit des Anfangs und die zeremonielle Versteifung der späten Höflingsjahre" als die Kehrseiten einer Medaille zu sehen.

    Den zusätzlichen Reiz des nachgelassenen Buches macht freilich aus, daß Goethe nicht der einzige im Seniorenheim der ausgelebten Erwählten bleibt: neben dem 82jährigen Goethe (und damit natürlich neben dem über 70jährigen Blumenberg) treffen sich dort noch andere Autoren und Philosophen um die 80: Thomas Mann, Sigmund Freud und natürlich Fontane. Selbst Hundertjährige sind anzutreffen: nein, keine Angst!, nicht Ernst Jünger, dafür aber der Aufklärungsphilosoph Le Bovier de Fontenelle. (Und wäre der hochmusikalische Blumenberg nicht im Bereich protestantischer Kirchenmusik und bei Johann Sebastian Bach stecken geblieben, er hätte mit Richard Strauss noch einen weiteren >Ausgelebten> dieses Jahrhunderts in Betracht ziehen können.)

    Zumindest bei Thomas Mann hat die ständige Anwesenheit im überzeitlichen Seniorenkolleg noch einen zusätzlichen Grund: Hans Blumenberg war noch Sextaner am Katharineum in Lübeck, als der poeta laureatus zur 400 Jahr -Feier des Gymnasiums einen Vortrag hielt. Eben dieses Gymnasium hatte auch Thomas Mann in seiner Jugend besucht. Und ob es nun an dem Entwurf einer idealen Erziehung zum hanseatischen Cortegiano lag, oder an dem gespreizten Auftreten des bekannten Autors - zwischen Blumenberg und Thomas Mann bleibt eine latente Konkurrenz, die - und das macht die Sache noch interessanter- nicht nur um spätere Würdigungen durch die Heimatstadt Lübeck kreist- sondern eben auch um Goethe. Und da Thomas Manns Lotte-Roman 1931 noch nicht geschrieben ist, arbeiten der erwachsene Blumenberg und der erwachsene Thomas Mann, dem Generationenunterschied zum Trotz, später parallel an Goethe. Dabei läßt der Vorwurf Blumenbergs an die Adresse Thomas Manns an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: wie denn Thomas Mann dazu komme, hören wir Blumenberg hinter allen diesbezüglichen Texten fragen, den Namen Goethes immer nur als Paßwort für Einzahlungen auf das eigene Konto zu mißbrauchen? Thomas Manns Selbstinszenierung als Goethe-Metamorphose und -Wiedergeburt ist für den Auch-Lübecker unüberhörbar und zweifellos Stein des Anstoßes. Für den Leser ist es freilich vergnüglich, nachzuverfolgen, wie Blumenberg seinen älteren Mitschüler vorführt: denn wenn schon Goethe-Metamorphose, dann wird man ja wohl auch die kleine Cynthia , die Thomas Mann im hohen Alter in Amerika trifft, und die dem literarischen Großmeister schon ein paar Hormon-Pillen wert ist, mit ihrer Vorgängerin Ulrike von Levetzow vergleichen dürfen, die Goethe in der "Marienbader Elegie" verewigt hat.

    An diesem Punkt ist Blumenberg aber auch ehrlich genug zu sagen, warum er selbst Goethe braucht: nämlich um der Alters- Eitelkeit eines ausgelebten Lebens zu entgehen. Zitat: "Beiläufig steht einer, der in höheren Sphären vermutet und in den niederen nicht vermißt zu werden scheint, für ein Problem, das wir alle mit uns selbst haben: unsere Optik auf uns so einzustellen, daß sie uns weder demütigt noch bläht. Man muß ertragen können: die Welt, die anderen, das Andere (wozu der Schmerz und das Leid gehören) - vor allem sich selbst." Das will gelernt sein. Blumenberg weiß, daß er bei dieser Goethe-Sicht auf den Schultern eines anderen Philosophen steht. Denn es war wieder Friedrich Nietzsche, der dieser Lebensform einer "Distanz zu sich selbst" einen Namen zu geben gewußt und gesagt hatte: "Goethe zum Beispiel".