Dienstag, 19. März 2024

Archiv


Stefan Zweigs Weg in den Suizid

Stefan Zweig war ein Schriftsteller von Weltruhm, als die Nazis am 18. Februar 1934 sein Salzburger Haus durchsuchen ließen. Davon aufgeschreckt, verließ er seine österreichische Heimat, strandete schließlich in Brasilien. Laurent Seksik hat sich der letzten sechs Monate vor dem Suizid in einem Roman angenommen.

Von Eva Karnofsky | 23.02.2012
    "Überall, wo er seine Koffer abgestellt hatte, war ihm der Boden unter seinen Füßen entzogen worden. London, Bath, New York. Überall hatte der Krieg ihn eingeholt. Jetzt hoffte er, dass der Krieg nicht auch noch diese Hügel erreichen würde. Er hatte den Ort der ewigen Ruhe gefunden"'',

    stellt der allwissende Erzähler doppeldeutig fest, nachdem Stefan Zweig in Brasiliens kaiserlicher Sommerresidenz Petrópolis die vierzig Bücher ausgepackt hatte, die ihn seit seiner überstürzten Abreise aus Salzburg Anfang 1934 begleiteten. Physisch sollte der Krieg den Schriftsteller im beschaulichen Petrópolis nicht erreichen. Und doch würde er hier gemeinsam mit seiner Frau Lotte nur ein halbes Jahr später seinem Leben ein Ende setzen. Laurent Seksiks Roman "Vorgefühl der nahen Nacht" befasst sich mit diesen letzten sechs Monaten. Der Autor widmet jedem Monat ein Kapitel. Es geht ihm darin nicht um eine vollständige Chronologie der Ereignisse. Vielmehr arbeitet er heraus, aus welchen Gründen sich die Welt für Stefan Zweig von Monat zu Monat mehr verdüsterte.

    Seksik hat für seinen biografischen Roman Zweigs Erinnerungen und Briefe ausgewertet sowie Zeitdokumente und Zeugnisse von Menschen, mit denen der Schriftsteller in Brasilien in Kontakt gestanden hatte, und sich daraus sein eigenes Bild vom Lauf der Dinge in Petrópolis gemacht. Seksik schildert Stefan Zweig als einen Menschen, dem es schwerfiel, sich an eine neue Umgebung anzupassen. Schon in New York war er nicht heimisch geworden. Er trauerte, nicht ohne Selbstmitleid und ohnehin zu Depressionen neigend, der Vergangenheit nach:

    "Für immer dahin der Nebel, der die Gipfel der Alpen einhüllt, die kalten und regungslosen Abenddämmerungen, die sich auf die Donau herabsenken, der Prunk der Wiener Hotels, die Spaziergänge unter den hohen Kastanien des Waldsteingartens, das Defilee der schönen Damen in ihren Seidenkleidern."

    Vor dem Zweiten Weltkrieg war Stefan Zweig ein erfolgsverwöhnter Autor mit weltweit hohen Auflagen. Kein Wunder, dass er nun das Exil als Absturz erlebte. Er verkraftete nicht, dass die Nazis ihn nicht nur seiner Heimat, sondern seines gesamten bisherigen Lebens beraubt hatten:

    "Er dachte an die lächerliche Wendung, die sein eigenes Schriftstellerdasein genommen hatte. Er schrieb nur noch, um übersetzt zu werden. Ist man überhaupt noch ein Schriftsteller, wenn man nicht mehr in der eigenen Sprache gelesen wird?"

    In seiner Depression erkannte er nicht, dass es ein Privileg war, zumindest übersetzt zu werden. Brasiliens Opposition hatte Stefan Zweig damals Opportunismus vorgeworfen: Sein Buch "Brasilien. Ein Land der Zukunft", so hieß es, sei so positiv in seinen Wertungen ausgefallen, weil Zweig Diktator Getulio Vargas ein Dauervisum abringen wollte. Zweig hat sich nie gegen diesen Vorwurf gewehrt. Überhaupt zeichnet Seksik das Bild eines wenig kämpferischen Mannes: Sein ebenfalls in Brasilien exilierter französischer Schriftstellerkollege Georges Bernanos nutzte seine Fama, um gegen Hitler-Deutschland zu schreiben und drängte Zweig, es ihm gleich zu tun. Seksik hat Bernanos´ Überzeugungsversuch im Übrigen recht ungeschickt in eine lange Suada gefasst. Zweig weigert sich.

    "Niemand brauchte irgendwo auf der Welt die Worte und Schriften von Stefan Zweig. Und im Übrigen wäre seine Stimme inmitten des Waffenklirrens überhaupt zu vernehmen?",

    lässt der Erzähler Zweig sich fragen. Zweig, um ein Millionenpublikum gebracht, hatte resigniert, so die Interpretation Seksiks.

    In Lotte Altmann, seiner um fast drei Jahrzehnte jüngeren zweiten Frau fand er ein ideales Pendant: Die schwer Asthma kranke Lotte ging auf in der Rolle der bedingungslos Liebenden, die sich widerstandslos von ihrem selbstbezogenen Mann in die Depression ziehen ließ. Sie wusste, so sieht es zumindest Seksik, dass sie nicht seine große Liebe, sondern lediglich seine Verjüngungskur war:

    "Sein Herz ist in dieser Welt unerreichbar, doch meine Liebe ist größer als die Unendlichkeit, meine Liebe wird sein Herz erreichen und meine Liebe wird so stark sein, dass sie seine sterbliche Hülle tragen wird. Meine Liebe wird über das Schattenreich herrschen. Es gibt nicht genug Licht hier unten, damit er mein wahres Gesicht erkennt",

    liest der Erzähler in Lottes Gedanken, die Seksik stilistisch immer eine Spur zu pathetisch geraten. Auch Zweig hatte diesen Hang zum Pathos, da mag es Seksik an Abstand gefehlt haben. Während sich der Autor bestens in Zweig hineinfühlt, fällt es ihm schwerer, sich in dessen Frau hinein zu denken. Letztlich vermag er auch nicht schlüssig zu erklären, was die junge und intelligente Lotte mit dem larmoyanten Zweig verband, der sie meist kaum wahrnahm.

    Auch wenn der Roman Stefan Zweig keineswegs als Lichtgestalt zeichnet, so weckt er doch Sympathie für ihn, weil der Schriftsteller, wie Seksik ihn sieht, seine eigenen Schwächen kannte und sich mit ihnen auseinandersetzte. Und auch an ihnen zerbrach.

    Besonders eindrücklich hat der Autor das große Dilemma herausgearbeitet, in das das Exil Zweig stürzte: Er hatte zwar die Sicherheit herbeigesehnt und war zunächst froh, sie in Petrópolis gefunden zu haben. Doch schon sehr bald machte ihm,
    wie den meisten Überlebenden großer Katastrophen, das schlechte Gewissen zu schaffen, an einem sicheren, angenehmen Ort zu leben, während seine alten Freunde um ihr Leben fürchten mussten oder bereits ermordet worden waren:

    "Er lebte in der Dämmerung. Manchmal luden die Gespenster sich nun auch tagsüber ein, während er inmitten der Lebenden weilt. In dieser Nacht hatte Joseph Roth ihn aufgesucht. Roth war sein hartnäckigster Besucher. Roth, der kühne und barmherzige Kämpfer, der pathetische und ruhmreiche Krieger der Worte, war der Beste unter ihnen. Roth war bis zum letzten Moment in Wien geblieben, kein Feigling, der sich in den Bergen Amazoniens verschanzt hätte."

    Es war der sich weltweit immer weiter verbreitende Nationalsozialismus und die Angst, ihm irgendwann nicht mehr entfliehen zu können, die Zweig zum Freitod bewogen haben, so die geläufigste Erklärung seines Suizids.

    Seksik fügt neben Zweigs Hang zu Depression und Selbstmitleid sein Heimweh und seine Schuldgefühle als weitere Gründe hinzu, die ihn in den Tod trieben, nur wenige Tage, nachdem er in Rio Karneval gefeiert hatte. Er fühlte sich schuldig, Wien, Deutschland und die Trauermärsche über den Sambaklängen für eine Weile vergessen zu haben.

    Und schließlich vermisste Stefan Zweig die lebendige kulturelle Szene Europas, zu der Freud, die Manns oder Franz Werfel gehört hatten und mit der er fest verbunden war. Hitler hatte sie ausradiert. Laurent Seksik ist mit "Vorgefühl der nahen Nacht" ein Roman mit stilistischen Schwächen, aber mit großem Einfühlungsvermögen dafür gelungen, was es heißt, im Exil zu leben.

    Buchinfos:
    Laurent Seksik: Vorgefühl der nahen Nacht. Aus dem Französischen von Hanna van Laak. Karl Blessing Verlag, München 2011, 239 Seiten, 18,95 Euro.