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Wundermittel oder Scheinpräparat?

Dem Ginkgobaum werden allerhand Wirkungen nachgesagt: Ein Extrakt aus den Blättern der Pflanze lindere nachlassende geistige Leistungsfähigkeit, Tinnitus und Schwindel. Doch diese Effekte sind unter Pharmakologen durchaus umstritten.

Von Mirko Smiljanic | 24.01.2012
    Spätherbst in den botanischen Gärten Bonn. Nur wenige Besucher sind an diesem Nachmittag im Arboretum, der Baumsammlung unterwegs. Über 100 Bäume und Sträucher stehen auf dem großen Gelände, von der spanischen Tanne, über den orientalischen Amberbaum bis zum Ginkgo biloba.

    Dieses Baums Blatt, der von Osten
    Meinem Garten anvertraut,
    Gibt geheimen Sinn zu kosten,
    Wie's den Wissenden erbaut.


    Johann Wolfgang von Goethe in einem Gedicht über die besondere gespaltene Form der Blätter des Ginkgobaumes.

    Ist es ein lebendig Wesen,
    Das sich in sich selbst getrennt?
    Sind es zwei, die sich erlesen,
    Dass man sie als eines kennt?


    Nur wenige Bäume üben eine solche Faszination aus wie der Ginkgo-Baum, genauer Ginkgo biloba, ein Relikt einer vor 180 Millionen Jahren weitverbreiteten Pflanzengruppe. Ginkgo biloba ist ein lebendes Fossil.

    "Das heißt, man findet sehr ähnliche Blätter in Fossillagerstätten über die ganze Welt verbreitet, und das andere ist, dass er diese eigentümlichen Blätter und die Blattmorphologie dann viele Inspirationen zugelassen hat."

    Eben Goethes Gedicht, fährt Wolfram Lobin, Kustos der botanischen Gärten Bonn fort, in dem er sich mit der "geeinten Zwienatur" alles Lebendigen, wie es in Faust II heißt, auseinandersetzt. Der Ginkgobaum hat eine lange Geschichte. Er ist schon vor über 1000 Jahren "als Pflanze in die Tempelanlagen gebracht worden, wo er dann auch überdauert hat, heute ist der weltweit verbreitet als Parkbaum, als Alleenbaum und jeder kennt den praktisch."

    Mächtig wölbt sich der rund 140 Jahre alte Ginkgo im botanischen Garten Bonn, 15 Meter misst die Krone im Durchmesser, einzelne Äste müssen von Eisengerüsten getragen werden. Überhaupt ist der Bonner Ginkgo ein ganz spezieller Baum:

    "Das ist eine besondere Form, der männliche und weibliche Blüten an einem Exemplar hat, was eher atypische ist, weil es normalerweise männliche und weibliche Pflanzen als getrennte Individuen gibt, hier wurden im auslaufenden 19. Jahrhundert auf einen männlichen Baum weibliche Äste aufgepfropft, und das Ergebnis ist eben dieser auch völlig untypisch wachsende Baum, der gestürzt werden muss, aber Früchte und männliche Blüten an einem Exemplar hat."

    Die Früchte des Ginkgos – tatsächlich sind es die Samen – haben einen silbrigen Wachsüberzug und eine gewisse Ähnlichkeit mit Mirabellen. So schön sie vor allem im Herbst auch aussehen, wegen des hohen Anteils an Buttersäure stinken die Früchte erbärmlich. Für pharmazeutische Zwecke sind sie ungeeignet.

    "Arzneilich verwendet werden Ginkgoblätter, nicht die Früchte, wobei im alten China die Früchte als Lebensmittel verwendet wurden, auch in Japan, aber bei uns in Europa und in den letzten Jahren auch in China werden die Ginkgoblätter verwendet, aber nicht, um sich selbst einen Tee zu bereiten, sondern in Form von Arzneimitteln, die ganz spezielle Extrakte enthalten."

    Gabriele König, Professorin für pharmazeutische Biologie an der Universität Bonn. Selbst gebrühte Tees aus Ginkgoblättern sind in aller Regel nicht nur unwirksam, weil viel zu niedrig dosiert, sie können auch gefährlich sein.
    "Weil durch Substanzen, die im Ginkgo enthalten sind, Allergien ausgelöst werden können, es gibt es zum Beispiel die sehr toxischen Gingkolsäuren, es wurde aber auch berichtet, dass es zu einer vermehrten Blutungsneigung kommt, dass die Blutgerinnung gestört ist, und dass auch die Schwelle für spastische Anfallsleiden wie Epilepsie, dass es zu einer Erhöhung der Vorfälle kommen kann."

    Zwei Stoffe werden für den medizinisch-pharmazeutischen Einsatz genutzt: Flavonoide und Terpenoide. Die wichtigsten Flavonol-Glykoside in den Ginkgoblättern sind Kämpferol – benannt nach Engelbert Kaempfer, von dem im 17. Jahrhundert die erste detaillierte westliche Beschreibung des Ginkgos stammt – sowie Quercetin und Isorhamnetin. Die medizinisch wertvollen Inhaltsstoffe kommen in den Blättern nur in geringer Konzentration vor. Die Herstellung von Ginkgoextrakten erfordert deshalb aufwendige Techniken, über die nur pharmazeutische Betriebe verfügen. Biochemisch sind Ginkgos einmalig! Und medizinisch auch: Sowohl das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, als auch der europäische Dachverband der nationalen Gesellschaften für Phytotherapie empfehlen Gingko-biloba-Blätter zur medizinischen Anwendung:

    "Bei nachlassender geistiger Leistungsfähigkeit, das geht hin bis zur Demenz, hier liegen durchaus wissenschaftliche Ergebnisse vor, die diesen Einsatz untermauern, dann wird Ginkgoextrakt verwendet bei sogenannten peripheren Durchblutungsstörungen, hier wird die Gehstrecke, die man ohne Schmerzen zurücklegen kann, erhöht, und Ginkgo wird verwendet bei Schwindel und Tinnitus."

    Es gibt allerdings auch gegenteilige Positionen: 2009 veröffentlichte das Fachmagazin "Journal of the American Medical Association" die Ergebnisse einer Studie, nach der Ginkgo keineswegs den im Alter einsetzenden schleichenden geistige Verfall verlangsame. An der Studie nahmen 3000 Probanden zwischen 72 und 96 Jahren teil, die sechs Jahre lang medizinisch untersucht worden waren. Die Hälfte der Versuchspersonen bekam in dieser Zeit ein Ginkgopräparat, der Rest ein Scheinpräparat. Zwischen beiden Patientengruppen fanden die Mediziner keine signifikanten Unterschiede:

    "Die Ergebnisse dieser Studien sind sehr widersprüchlich, es gibt auch Metaanalysen, also Analysen, die die Gesamtheit dieser klinischen Studien betrachten, und je nach Autor kommt man zu unterschiedlichen Ergebnissen."

    Immerhin hat im Jahre 2008 das IQWIG, das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, Köln, eine Studie veröffentlicht, in der sie Ginkgoextrakte in hoher Konzentration positiv bewertete. Diese Konzentration war allerdings so hoch, dass sie weder mit Nahrungsergänzungsmitteln noch mit selbst gebrühten Tees zu erreichen wäre.

    Ob Ginkgo vorbeugend genommen werden sollte, darüber gibt es für Gabriele König, Pharmazeutin an der Universität Bonn, keine einhellige Meinung:

    "Es gibt Hinweise darauf, dass auch der gesunde Mensch, der Konzentrationsschwächen zeigt, bei dem die Gedächtnisleistung nachlässt, auch hiervon profitiert, aber prinzipiell ist zu sagen, dass Arzneimittel, und über die reden wir, prinzipiell nicht von gesunden Menschen genommen werden sollen, natürlich auch keine Kinder und keine Schwangeren, denn für diese Personenkreise sind diese Extrakte nicht untersucht."

    Eine gewisse Vorsicht ist bei Ginkgopräparaten – wie bei allen Präparaten auf pflanzlicher Basis – angezeigt; was das Syntheselabor "Pflanze" produziert, ist keineswegs immer sanft! Und wie die Inhaltsstoffe in den biochemischen Haushalt des Menschen eingreifen, wissen die Forscher ebenfalls noch nicht in allen Details:

    "Der Wirkungsmechanismus, also wie diese Verbindungen letztendlich ihren pharmakologischen Effekt in der Klinik wirken, das ist noch zu wenig verstanden."

    Bleibt der Mythos dieses einzigartigen Lebensbaumes. Eine der faszinierendsten Geschichten fand 1945 in Hiroshima statt. Beim Abwurf der Atombombe über der japanischen Stadt ging ein Ginkgobaum in Flammen auf, blieb aber stehen. Ein Jahr später schlugen wieder Blätter aus.
    Als einer der ältesten der Ginkgos in Deutschland, "gilt der im botanischen Garten Jena, der angeblich von Goethe gepflanzt worden ist oder durch Goethe inspiriert, gepflanzt wurde."

    Solche Fragen zu erwidern
    Fand ich wohl den rechten Sinn;
    Fühlst du nicht an meinen Liedern,
    Dass ich eins und doppelt bin?