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Was ist Ritalin?

Schätzungsweise zehn Millionen Kinder werden weltweit mit Ritalin behandelt. Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitäts-Symptom - kurz ADHS lautet immer häufiger die Diagnose. In den vergangenen Jahren hat die Zahl der "Zappelphilippe" sprunghaft zugenommen - allerdings fast ausschließlich in den USA und in Europa.

Autorin: Agnes Steinbauer | 23.01.2004
    In Deutschland soll es mittlerweile bis zu einer Million ADHS-Kinder geben. Die Zahlen schwanken, denn die Diagnose ist oft schwierig. Zwischen fünf und zehn Prozent der sechs bis 15-Jährigen sollen betroffen sein - ähnlich liegen die Schätzungen in anderen europäischen Ländern wie in der Schweiz und Frankreich.

    In Deutschland stieg der Umsatz der Pharmaindustrie zwischen 1995 und 1999 bei Ritalin von über einer Million auf fast 13 Millionen Euro. Es gehört mittlerweile zu den meistverkauften Kinderpsychopharmaka. Was ist Ritalin?

    Sein Hauptbestandteil Methylpheridat ist chemisch verwandt mit aufputschenden Amphetaminen, die Psychodrogen wie Speed oder Ecstacy ähnlich sind. Ein Paradoxon für die Wissenschaft: Bei ADHS-Kindern bewirkt Ritalin das Gegenteil. Es beruhigt. Die Konzentration verbessert sich erheblich, die motorische Unruhe nimmt ab und damit der Stress für Eltern und Lehrer.

    Was macht Ritalin im Gehirn? Seine Wirkungsweise ist noch wenig erforscht. Die Mehrheit der Fachwelt glaubt, dass ADHS - neben psychischen Ursachen - auf einen Mangel des Botenstoffes Dopamin zurückzuführen ist. Dopamin ist im Gehirn Signalüberträger zwischen den Zellen zur Steuerung von Emotion, Konzentration und Motorik.

    Dem Rest der Fachwelt zum Trotz vermutet der Göttinger Neurologe Gerald Hüther, ADHS werde nicht durch zu wenig Dopamin verursacht, sondern durch zuviel. Das Frontalhirn - Sitz von Emotionen und Persönlichkeitsstrukturen - werde bei ADHS-Kindern mit Dopamin überflutet. Bei den Kindern äußere sich die dadurch ausgelöste Reizüberflutung in Konzentrationsschwäche und Hyperaktivität. Ritalin dämpfe, so Hüther den übermäßigen Dopaminausstoß aus dem Mittelhirn.

    Obwohl Hüther die beruhigende Wirkung von Ritalin nicht bezweifelt, gehört er zu Deutschlands schärfsten Kritikern der - Zitat - "verheerenden Verschreibungspraxis" von Ritalin. Hüther fürchtet Langzeitfolgen.

    Rattenversuche hatten ihm gezeigt, dass sich der Wirkstoff Methylphenidat bei jungen Gehirnen ungünstig auf die Ausbildung von Dopamin produzierenden Zellen auswirkt, deren Fortsätze mit zunehmendem Alter ohnehin dünner würden. Daraus kann die Schüttellähmung Parkinson entstehen. Bei jahrelanger Ritalin Medikation befürchtet Hüther das auch für ADHS-Patienten .

    In der Fachwelt und bei Elternverbänden tobt der Meinungskampf um Ritalin. Die einen sehen es als einzig wirksames Medikament, mit dem schwer gestörte Kinder ein normales Leben führen können. Die anderen halten es für eine gefährliche Droge, die zu Abhängigkeit auch von anderen Betäubungsmitteln und zu schweren Krankheiten wie Parkinson führen kann. In den USA gibt es Elternselbsthilfeorganisationen, die sogar Todesfälle auf Ritalin zurückführen.

    Gerald Hüther - und da ist sich der Neurologe mit vielen Kollegen einig - will die psychotherapeutische Behandlung bei ADHS vorantreiben. Er ist überzeugt, dass die Krankheit viele viel zu wenig berücksichtigte psychische Ursachen hat. ADHS-Kinder hätten gelernt, dass sie mit Schreien und Zappeln durchkommen. Ihr Gehirn habe sich keine anderen Strategien ausdenken müssen. Oft seien sie mit widersprüchlichen Erziehungsmethoden konfrontiert - wie auch der klassische "Zappelphilipp" im Struwelpeterbuch. Dort sei das Kind zwischen einem autoritär-aktiven Vater und einer passiv-hilflosen Mutter hin und her gerissen, die nur "stumm um den ganzen Tisch herumblickt". Nach Hüthers Meinung ist Ritalin wichtig und wirksam, aber in sehr wohl abgewogenen Maßen. Er sieht die Tablette als Chance für das Kind, sich für eine Therapie öffnen zu können.