Donnerstag, 25. April 2024

Archiv

Ernst Peter Fischer: "Treffen sich zwei Gene"
Vom Wandel unseres Erbguts

Feste, zählbare Einheiten im Innern unserer Zellen, gespeichert auf dem Erbmolekül DNA - dieses Bild vom Genom dominiert seit den siebziger Jahren. Doch es stimmt nicht. In seinem neuesten Sachbuch versucht der Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer mit den falschen Vorstellungen von Genen, Genomen und Zellen aufzuräumen.

Von Michael Lange | 26.03.2017
    Transposons, an deren Ende das Enzym Transpoase gebunden ist, mit dessen Hilfe sie "springen" können
    Unser Genom: Sprachgewaltig und detailreich geht Autor Fischer den vorhandenen Fehleinschätzungen und Vorurteilen auf den Grund. (imago / Science Photo Library)
    Heute sehen wir Gene als feste, zählbare Einheiten im Innern unserer Zellen, gespeichert auf dem Erbmolekül DNA. Dieses Bild dominiert seit den siebziger Jahren die Wissenschaft und auch die Öffentlichkeit. Doch es ist falsch, oder zumindest nach dem neuesten Forschungsstand nicht ganz richtig. Demnach verändern Gene ständig ihre Aktivität. Sie arbeiten in Netzwerken zusammen und sind zahlreichen Einflüssen aus dem Körper und aus der Umwelt ausgesetzt. Gene wirken miteinander und gegeneinander. Gemeinsam mit der Umwelt gestalten sie ein Lebewesen in Form und Verhalten.
    Genetischer Determinismus versus Biologie des Werdens
    In seinem neuesten Sachbuch versucht der Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer unser Bild von Genen, Genomen und Zellen zu erneuern. Sprachgewaltig und detailreich geht er vorhandenen Fehleinschätzungen und Vorurteilen auf den Grund. Er zeigt, wie Wissenschaftler ebenso wie Journalisten dazu beitragen, dass Laien mehr und mehr den Überblick verlieren. Wer von Krankheitsgenen spricht, von Intelligenzgenen, vom Codieren und Entschlüsseln oder von genetischen Programmen, darf sich nicht wundern, dass sich die Vorstellungen des Publikums immer weiter vom Kenntnisstand der Wissenschaft entfernen.
    So treibt der wissenschaftlich längst überwundene genetische Determinismus ständig neue Blüten. Viele vermuten, dass ein verborgener Code Auskunft gibt über ihr Schicksal oder zumindest genaue Informationen über ihre gesundheitliche Zukunft bereithält. Dem genetischen Determinismus stellt Ernst Peter Fischer eine Biologie des Werdens gegenüber. Gene sind nichts, sie werden. Das Wort "genetisch" führt er auf Johann Wolfgang von Goethe zurück, der damit eine sich neu bildende lebendige Gestalt bezeichnete, ohne dass er etwas von der Biologie der Erbanlagen ahnen konnte. Darauf aufbauend sucht Ernst Peter Fischer nach neuen Begriffen. Er spricht von "bewegten Bewegen" oder von Genen als Aktivitäten oder Prozesse: "Gene codieren nicht, Gene genen," schreibt er augenzwinkernd.
    Gelegentlich brummt bei der Lektüre der Kopf
    Ernst Peter Fischer ist nicht nur ein nimmermüder Welterklärer, sondern ein naturwissenschaftlicher Feuilletonist. Er hinterfragt Begriffe, ordnet ein, bezieht Stellung und stellt aktuelle Entwicklungen in historische Zusammenhänge. Immer wieder verbindet er Naturwissenschaft mit Philosophie und Literatur. Dieses muntere Durcheinander steigert sich gegen Ende des Buches. Und obwohl Fischer sich stets um klare, einfache Worte bemüht, brummt bei der Lektüre gelegentlich der Schädel. Denn Fischer zertrümmert erfolgreich das alte Bild vom Erbgut, das neue jedoch bleibt unscharf. Das Genom ist ein Dschungel, ein großes undurchschaubares Durcheinander.
    Ernst Peter Fischer: "Treffen sich zwei Gene. Vom Wandel unseres Erbguts und der Natur des Lebens."
    Siedler-Verlag, München 2017, 336 Seiten, 24,99 Euro