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Querschnittlähmung
Erfolge mit Stimulatoren im Rückenmark

Bei einer Querschnittlähmung wird das Rückenmark so stark geschädigt, dass der Patient seine Beine nicht mehr bewegen kann. Eine Heilung war bisher nicht möglich. Nun gibt eine neue Therapie Anlass zur Hoffnung - ob es sich dabei aber tatsächlich um einen Durchbruch handelt, sehen Experten skeptisch.

Anneke Meyer im Gespräch mit Lennart Pyritz | 25.09.2018
    Jered Chinnock, Patient an der Mayo Clinic, legt dank eines implantierten Stimulators erste Schritte zurück
    Ein Patient mit Querschnittlähmung legt dank eines implantierten Stimulators erste Schritte zurück (Mayo Clinic News Network)
    Lennart Pyritz: Ein Querschnittgelähmter gibt den Anstoß zur Fußball WM, ein Affe mit durchtrenntem Rückenmark läuft wieder, ein ab dem Hals gelähmter junger Mann spielt Gitarre - mit seinen eigenen Händen. In den letzten Jahren gab es immer wieder Meldungen, die Querschnittgelähmte hoffen lassen. Allen Durchbrüchen zum Trotz: Heilbar ist Querschnittlähmung bisher nicht.
    Nun berichten gleich zwei Forschergruppen von einer neuen Therapie, mit der Gelähmte wieder gehen können. Meine Kollegin Anneke Meyer verfolgt die Forschung schon seit ein paar Jahren und hat die beiden Studien für uns genauer angesehen. Können die Versuchsteilnehmer wirklich wieder laufen?
    Anneke Meyer: Natürlich würde ich gerne "ja" sagen, aber die Antwort lautet doch eher "vielleicht ein bisschen". Beide Forschergruppen - eine an der Mayo-Clinic in Minnesota, die andere an der University of Louisville in Kentucky - haben Videos ins Netz gestellt. Und da kann man sehen, dass drei der insgesamt fünf Studienteilnehmer, assistiert durch einen Physiotherapeuten und mit einer Gehhilfe, sich ganz langsam, Schritt für Schritt fortbewegen. Die Wissenschaftler benutzen in den Publikationen deshalb auch nicht das englische Wort für gehen, also "walking", sondern sprechen von "stepping". Das wäre eher sowas wie "Schritte machen". Den übrigen zwei Patienten gelang dieses "stepping" übrigens nicht, aber bewegen konnten sie die Beine schon. Wenn man bedenkt, dass wir hier von Querschnittgelähmten sprechen, ist das schon erstaunlich.
    Nervenschaltkreise sollen sich wieder an Bewegungen erinnern
    Pyritz: Wie haben die Wissenschaftler, Forschenden dieser beiden Studien das denn überhaupt geschafft, diese Therapieerfolge zu erzielen, auch wenn es jetzt erstmal nur erste Schritte sind?
    Meyer: Das funktioniert mit einer Kombination aus Elektrostimulation und spezieller Physiotherapie. Unabhängig voneinander wurden einem Patienten in Minnesota und vier Patienten in Kentucky ein sogenannter "Epiduraler Rückenmarkstimulator" implantiert. Das ist ein Gerät, das im Prinzip so funktioniert wie ein Herzschrittmacher, nur eben fürs Rückenmark. Es wird unterhalb der lähmenden Verletzung in die Wirbelsäule eingesetzt. Und damit können die Nerven und damit letztlich auch die Muskeln, die vom Gehirn abgeschnitten sind, wieder aktiviert werden. Mit der Kombination aus Elektrostimulation und Physiotherapie werden die durch die Rückenmarksverletzung stillgelegten Nervenschaltkreise in den Beinen darauf trainiert, sich wieder an die Bewegung zu erinnern. Nach mehreren Wochen Training können die Patienten dann selbständig Bewegungen erzeugen - allerdings nur, wenn der Stimulator an ist und sie selbst auch die Absicht haben, sich zu bewegen. Gerade diese Intention - und das berichten die Forscher übereinstimmend - ist ganz wichtig. Schön ist natürlich, dass zwei Gruppen weitestgehend unabhängig zu ähnlichen Ergebnissen kommen. Und das deutet ja immer darauf hin, dass es ja dann doch ein robustes Verfahren ist.
    Durchbruch oder Machbarkeitsstudie?
    Pyritz: Inwieweit sind diese Erfolge mit, ja dann doch "nur" fünf Patienten, ein Durchbruch? Wie reagiert die Fachwelt auf diese Studien?
    Meyer: Sie sagen es schon: "nur" fünf Patienten. In einer Veröffentlichung vier, in der anderen nur einer - das ist eigentlich eine Fallbeschreibung, keine repräsentative Studie. Die Arbeiten zeigen auf, dass hier ein interessanter Ansatz ist, der grundsätzlich funktionieren kann. Ein "Proof of Principle", wie man in der Wissenschaftswelt so schön sagt. Von einem Durchbruch könnte man erst sprechen, wenn wirklich vielen Betroffenen geholfen werden kann. Dass das mit dieser Methode gelingt, da sind die Expertenstimmen, die ich gehört habe eher skeptisch.
    Pyritz: Warum ist das so?
    Meyer: Zum einen, weil die Bewegung durch Intention gesteuert werden kann. Das ist gut, aber auch erstaunlich, denn der Elektrostimulator überbrückt die Verletzung im Rückenmark ja nicht. Er sitz nur auf den "kaputten" Nerven. Wie kommt also die Intention da unten an? Und da ist die Vermutung, dass dafür ganz vereinzelte, unbeschädigte Nerven verantwortlich sind. Wenn das stimmt, funktioniert die Methode nicht für alle Patienten, sondern nur für solche, die noch relativ viel Restaktivität haben. Also zum Beispiel inkomplett Gelähmte. Der andere große Kritikpunkt ist, dass ein paar wackelige Schritte im Alltag keine Verbesserung der Lebensqualität bringen. Wenn zuhause keine Gehhilfe und kein stützender Therapeut da sind, können die Versuchsteilnehmer vielleicht ihre Beine bewegen, aber zum Kühlschrank oder auf Toilette kommen sie dann doch besser mit dem Rollstuhl. Allerdings wird dabei schnell vergessen, dass verbesserte Lebensqualität auch andere Aspekte hat.
    Das Ziel: Ein Zugewinn an Lebensqualität
    Pyritz: Was meinen Sie da zum Beispiel?
    Meyer: Die Forscher haben die Methode der epiduralen Rückenmarkstimulation schon in früheren Studien getestet, auf denen die Arbeit jetzt aufbaut. Und diese ersten, ebenfalls fünf Patienten konnten ihre Blase wieder selbstständig entleeren und berichteten von einer verbesserten Sexualfunktion. Ich denke, das ist schon ein Plus an Lebensqualität. Ums Laufen ging es in diesen ersten Versuchen noch gar nicht. Wissenschaft funktioniert Schritt für Schritt.
    Pyritz: "Stepping" statt "walking" sozusagen?
    Meyer: Ja, genau. Sie haben ja eingangs einige der aufregenden Erfolgsmeldungen aus den letzten Jahren genannt. Vielen Menschen geholfen hat bisher keiner dieser Erfolge. Querschnittlähmung heilen können wir immer noch nicht. Aber die Wissenschaft versteht immer mehr; und vielleicht gelingt eines Tages das, was heute undenkbar ist.
    Pyritz: Heißt das dann im Umkehrschluss, es gibt Ansätze, die besser geeignet sind, um Querschnittsgelähmte eines Tages vielleicht wirklich heilen zu können?
    Meyer: Sicher ist, es gibt viele verschiedene Ansätze. Einige haben Sie eingangs angerissen: Brain-Machine-Interface gelenkte Exoskelette, die Überbrückung des geschädigten Rückenmarks mit Elektroden oder Hirnimplantate. Noch andere Forscher versuchen, Medikamente zu entwickeln, die das Rückenmark wieder zusammenwachsen lassen können. Ob irgendetwas davon am besten ist? Wer weiß das schon. Bisher hat noch kein noch so spektakuläres Verfahren Querschnittlähmung heilbar gemacht. Aber alle haben neues Wissen gebracht. Und so funktioniert Forschung eben: Schritt für Schritt.