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Armenien im Aufbruch (5/5)
Wenn Tabus fallen

Down-Syndrom, kognitive Einschränkungen oder körperliche Behinderungen machten die betroffenen Menschen und ihre Familien lange zu gesellschaftlichen Außenseitern in Armenien. Ausgerechnet in der ärmsten Stadt des Landes beginnt sich dies nun zu ändern.

Von Christoph Kersting | 30.11.2018
    Therapie in der Einrichtung "Emils kleine Sonne" in Armenien
    115 Kinder werden in der Einrichtung "Emils kleine Sonne" gefördert (deutschlandradio / Christoph Kersting)
    Emils kleine Sonne – das ist für die 11-jährige Marine an diesem Morgen eine Rassel, die sie in der Hand hält, und das Klavierspiel von Musiktherapeutin Karina Kohar. Marine hat seit ihrer Geburt einen irreversiblen Hirnschaden, kann nicht sprechen und ist motorisch stark eingeschränkt – aber sobald die Musik erklingt, blüht das Mädchen sichtlich auf.
    Normalerweise könne Marine noch nicht einmal ein Spielzeug längere Zeit in der Hand halten, erzählt die Musiktherapeutin.
    Erste Behinderten-Einrichtung nach modernen Standards
    Marine ist eins von insgesamt 115 Kindern, die täglich das Förder- und Therapie-Zentrum "Emili Aregak", "Emils kleine Sonne", am Stadtrand von Gyumri besuchen. Der Name verweist auf den Initiator der Einrichtung, Emil Nachbaur. Auf seine Idee hin ist das Zentrum in Gyumri 2015 entstanden - gebaut mit Mitteln der österreichischen Caritas in Vorarlberg, die selbst von einem "Leuchtturmprojekt" spricht. Denn es ist die erste Einrichtung für junge Menschen mit Beeinträchtigung überhaupt in Armenien, die nach modernen Standards arbeitet.
    Tigranuhi Akopyan sitzt an diesem Morgen in einem kleinen Café in der Fußgängerzone von Gyumri und nippt an einem Milchkaffee. Die kleine, energische junge Frau hat in den USA Erziehungswissenschaften studiert und leitet das Förderzentrum am Stadtrand. Sie brennt für ihre Aufgabe und spricht gerne von einer "Oase", wenn sie "Emils kleine Sonne" beschreiben soll.
    "Mit unserer Einrichtung sind wir nur ein Tropfen in einem großen Meer an Herausforderungen. Es gibt einfach noch so viel zu tun, wenn es um die Themen Beeinträchtigung und Behinderung in Armenien geht. Die Menschen, die davon betroffen sind, haben es sehr schwer im Alltag. Für Kinder mit Beeinträchtigung gibt es spezielle Schulen, die aber schlecht ausgestattet sind, nicht barrierefrei. Inklusion findet nicht statt. Dann sind die Familien mit einem behinderten Kind noch stärker von Armut betroffen als sowieso schon, weil die Mütter zu Hause bleiben und so nicht arbeiten können."
    Fehlende Infrastruktur ist das Eine, fatal sei aber vor allem der gesellschaftliche Umgang mit dem Thema Behinderung in Armenien:
    "Wenn ein Kind mit Behinderung geboren wird, dann heißt es häufig: Die Mutter ist schuld, die Familie ist schuld. Keine Hilfe von außen, stattdessen werden die Leute stigmatisiert, und auch die anderen Geschwister gelten dann schnell als nicht normal."
    Eine Aufgabe für Menschen mit Beeinträchtigungen
    Darum arbeiten die Psychologen im Förderzentrum auch mit Eltern und Geschwistern, versuchen sie zu stärken für den schwierigen Alltag. Und "Emils kleine Sonne" zeigt, dass auch junge Menschen mit Behinderung Aufgaben übernehmen, einer normalen Arbeit nachgehen können.
    So wie im Café im Stadtzentrum von Gyumri. Es ist quasi eine Außenstelle des Förderzentrums, aktuell arbeiten hier vier Menschen mit Beeinträchtigung. Tigranuhi holt kurz Mikhael an ihren Tisch. Er ist 20 Jahre alt, kommt jeden Tag für sechs Stunden hierher, macht sauber, hilft bei der Vorbereitung von Brot- und Kuchenteig. Mikhael hat das Downsyndrom, war mit großen Schwierigkeiten an einer Hauswirtschaftsschule angenommen worden – und fand dann nirgendwo eine Praktikumsstelle in einem Hotel oder Restaurant – wegen seiner Beeinträchtigung, erzählt Tigranuhi Akopyan.
    "Gyumri ist ein spezieller Ort: wegen des Erdbebens, aber auch wegen der Armut hier. Ich lebe ja hier, und ich weiß aus eigener Erfahrung: Gyumri ist die ärmste Stadt im Land. Die am stärksten zerstörte Stadt, moralisch zerstört ebenso wie physisch. Moralisch, weil so viele Menschen die Stadt verlassen haben und noch immer verlassen. Die jungen Leute gehen weg von hier, weil es keine Arbeit gibt. Wenn man doch hierbleiben und arbeiten will, dann muss man sich diese Arbeit quasi selbst schaffen. Und genau das war der Grund, warum wir das Café hier aufgemacht haben. Denn wer, wenn nicht wir, würde diese jungen Menschen mit Behinderung einstellen?"
    Mikhael verabschiedet sich Richtung Tresen, und auch Tigranuhi Akopyan muss gleich los. Sie wird auch morgen wieder vorbeischauen in der Außenstelle von "Emils kleiner Sonne".