Kommentar zur Nationalratswahl in Österreich

Expertokratie ist auch keine Lösung

04:31 Minuten
Mann mit Teleskop leitet Männer in Anzügen in einem Ruderboot an.
Vorwärts soll es gehen, sagen die Experten, aber in welche Richtung? © imago images / Ikon Images
Von Andrea Roedig · 29.09.2019
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Gleich wie die Wahl in Österreich heute ausgeht, eins ist sicher: Die Regierung der Experten geht zu Ende. Schade eigentlich, denken sich manche Österreicher. Wäre es nicht besser, sie auf Dauer zu stellen?
Als im Mai die Bombe hochging, das Ibiza-Video, und alles aus den Fugen zu geraten schien, da war in Wien auch eine Erleichterung zu spüren: Ah, eine Expertenregierung! Unterhalb des politischen Kasperltheaters existiert tatsächlich ein stabiler Verwaltungsapparat; es gibt lang gediente Beamte, die sich auskennen in ihren Fachgebieten und die, vom Bundepräsidenten väterlich angelobt, das Land ruhig führen werden.

Schaden Politiker mehr als sie nützen?

Umfragen zufolge waren die Österreicher nicht unzufrieden mit diesen neuen Ministerinnen, deren Namen man sich nicht eigens merken musste. Keine Skandale, keine aufgeregten Personalfragen, keine medienwirksamen Zänkereien. Stattdessen setzte man, dank wechselnder Mehrheiten, flugs eine Anhebung der Renten durch, den Ausbau des Ökostromnetzes, eine Steuerreform und das Rauchverbot in Gaststätten. Auch jenseits von Österreich und angesichts einer immer komplexer werdenden Welt stellt sich da die Frage: Sollten wir uns nicht lieber von verlässlichen, parteiunabhängigen Experten regieren lassen?
Der früheste Verfechter der Expertenregierung war bekanntlich Platon, der den Demos – nicht zu Unrecht – für ein wildes Tier hielt und nur die Vernünftigen, also: die Philosophen, regieren lassen wollte. Durch die Geschichte hinweg gab es diese Position immer wieder, und sie ist ernst zu nehmen.
Denn die Stärke der Demokratie – Mitbestimmung – ist zugleich auch ihre Schwäche: Sie hängt von Meinungen ab und den Mehrheiten derer, die im Grunde keine Ahnung haben. Sie bedarf der Vermittlungsfigur des Politikers, der, anders als der Experte, nicht in erster Linie an Sachfragen orientiert ist, sondern an Gestaltungsmacht und der Durchsetzung von Interessen. Derzeit hat man angesichts des Brexits beispielsweise oder des Klimawandels eher den Eindruck, dass Politik überhaupt mehr schadet als nützt. Von Vernunft keine Spur.

Expertokratie: Entpolitisierung des Politischen?

Aber der Wunsch nach einer Expertokratie hat eine ungute Schlagseite. Er ist im Grunde nichts anderes als die Sehnsucht nach dem starken Führer, der per Diktatur der Sachentscheidung alles lenkt. Dass es aber die reine Sachentscheidung nicht gibt, darauf hat immer wieder der unverbrüchliche Demokrat Jürgen Habermas hingewiesen.
Wer entscheidet, wozu die Sachentscheidung dient? Die gesellschaftlichen Ziele müssen ausgehandelt werden - und zwar zwischen den Regierenden, den Experten und der mündigen Öffentlichkeit. Technisches Wissen muss zugänglich bleiben und zurückgebunden sein an die Lebenspraxis der Menschen, sonst führt es seinerseits zu gesellschaftlicher Irrationalität, schreibt Habermas schon 1963.
Die Autorin Andrea Roedig
Wer ständig nach Experten rufe, traue der Demokratie zu wenig zu, meint die Philosophin und Publizistin Andrea Roedig.© privat
Der Hang zur Technokratie entspringt einem negativen Menschenbild, der zur Demokratie einem positiven: Das Ideal der Demokratie traut den Vielen etwas zu: nämlich Vernunft, Mündigkeit, Kommunikation. Das ist anstrengend. Aber wir kommen um die Sphäre des Politischen nicht herum. Expertenregierungen funktionieren nur als Ausnahme, auch ihre Entscheidungen sind nicht unpolitisch.

Streiten für vernünftige Demokratie

In Österreich hat die türkis-blaue Regierung, gerade weil sie umstritten war, eine umfassende Politisierung bewirkt, und auch – allen Unkenrufen zum Trotz – eine erfrischend kritische Wachsamkeit mancher Medien. Selbst wenn es nach den Wahlen zu einer Neuauflage der alten Koalition kommen sollte – nach Ibiza ist vor Ibiza –, müssen wir den Wahnsinn wohl aushalten und mit allen Mitteln für eine anspruchsvolle Demokratie kämpfen, für mehr Partizipation, integre Politiker und mehr Einfluss von Experten. Denn Vernunft und Demokratie dürfen einander nicht ausschließen.

Andrea Roedig ist Philosophin und Publizistin. Sie ist Mitherausgeberin der österreichischen Kultur- und Literaturzeitschrift "Wespennest". 2015 erschien ihr gemeinsam mit Sandra Lehmann verfasster Interviewband "Bestandsaufnahme Kopfarbeit" im Klever-Verlag, kürzlich ihr Essayband "Schluss mit dem Sex".

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